Im Kinofilm hat die Atombombe thematisch seit den Fünfzigern ihren festen Platz. Im zweiten großen künstlerisch-visuellen Medium des 20. Jahrhunderts, dem Comic, ist sie eine unsichtbare Macht, die postapokalyptische Landschaften, derangierte Lebensverhältnisse, mutierte Bestien und verstrahlte Superhelden zu verantworten hat.
Nun aber, 75 Jahre nach dem Bombenabwurf, folgt das Comic-Künstlertrio Didier Alcante, Laurent-Frédéric Bollée und Denis Rodier den Spuren der Täter mit einem 470seitigen Trumm, in dem vier Jahre Arbeit und, wie man dem Nachwort entnehmen kann, die lebenslange Liebe Alcantes zu Japan stecken. Die Autoren untersuchen die moralphilosophischen und kriegspsychologischen Grundlagen der Entwicklung der Bombe. Die Erzählform ist eine kuriose Mischung aus History-Thriller und Mystik-Dokumentarcomic. Weil verbürgte Sachlichkeit die Basis jedes Spannungsbogens ist, gingen der Produktion penible Recherchen voraus.
Der Band erzählt chronologisch von der Idee der Bombe über ihre Entwicklung bis zum Inferno und lässt dabei viel Wissenschafts- und Politikprominenz auftreten – beginnend mit dem Physiker und Molekularbiologen Leo Szilard, der 1933 den Entschluss fasst, Deutschland, nachdem die Nazis ihre mörderischen Absichten immer weniger verhehlen, zu verlassen und der seine Theorien zur Kernfusion an die Columbia-Universität mitnimmt. Wir sehen Einstein väterlich zweifeln, Richard Oppenheimer die Leitung des Manhattan-Projekts antreten, wir sehen, wie sich das ursprüngliche Ziel, Deutschland beim Bau der Atombombe zuvorzukommen, bereits mitten im Zweiten Weltkrieg durch die Antizipation des Kalten Krieges wandelt, wie Missgunst und Karrieresucht ebenso wie Ideale und moralische Zerwürfnisse die wissenschaftlichen, politischen und militärischen Apparate unter Spannung setzen.
Besonders perfide nehmen sich die Testversuche von Plutonium auf den menschlichen Organismus aus: Nachdem die Wahl auf einige todgeweihte Krebskranke gefallen ist, denen in Krankenhäusern ohne ihr Wissen das radioaktive Schwermetall injiziert wird, stellt sich bei einem, dem bereits Milz, Leber, Bauchspeicheldrüse und neunte Rippe entfernt wurden, heraus, dass er gar nicht an Krebs erkrankt ist. Eine Petitesse: „Wir brauchen mehr human products“, fordert der Arzt.
Der Blick fällt in Labore, Büros und Hinterzimmer, die sich nach stundenlangen Diskussionen mit dichtem Zigarettenrauch füllen, bis Entscheidungen getroffen sind; er folgt Widerstandskämpfern bei den Sabotageaktionen des norwegischen Vemork-Wasserkraftwerks, die die Deutschen an der für die Atombombe nötigen Schwerwasserproduktion hindern sollen, und fällt schließlich auf die von Soldatenleichen gesäumten Ufer der Insel Okinawa. Allein bei der Darstellung der japanischen Bewohner*innen und ihres Alltags nahm man sich aus Pietät einige fiktionale Freiheiten.
Es geht mitunter unübersichtlich multiperspektivisch zu. Hin und wieder helfen aber Bildperspektive und Blickmontage dabei, die Orientierungslosigkeit zumindest emotional zu mildern und, auch das, ideologisch zu steuern: Stalins Gesicht erscheint zum ersten Mal als Spiegelung in einem schneeverhangenen Fenster des Kreml, in dem seine Augen zunächst nur schwarze Höhlen sind, und wir spüren: Da geht’s finster zu. Als dagegen der US-Kriegsminister Henry L. Stimson beim Zwiegespräch mit General Groves im Pentagon verbietet, Kyoto zu bombardieren, weil es die „Wiege der japanischen Zivilisation“ sei, und sich aus der Nahaufnahme seines Gesichts die Rückblende zu einer Romanze an ebendiesem Ort herausschält, fühlen wir: Der Mann trägt viel Liebe in sich.
Wenn der Analyse das Vertrauen entzogen wird, müssen ikonische Bilder aushelfen. Ohnehin wird die Aufklärung von der ersten Seite an vom Mythos überstimmt, mit dem der Ich-Erzähler anhebt: „Am Anfang war das Nichts. Doch dieses Nichts enthielt bereits alles. (…) Dann trat das Leben auf den Plan, entwickelte sich, Schritt voran. Das betraf mich nicht. Doch ahnte ich, dass diese seltsamen Kreaturen, aufrecht auf ihren zwei Beinen, eines Tages das Werkzeug meiner Bestimmung sein würden… dass sie eines Tages diese Energie entfesseln, die in mir pochte, toste, brodelte. Doch wann? Und wie?“
Der da zu uns spricht und fortan alle Schritte der menschlichen Naturunterwerfung kommentieren wird, ist weder Gott noch Teufel, sondern das Uran selbst. Dass der Zeichner Rodier zuvor über ein Jahrzehnt an „Superman“-Comics einen schnellen, auch mal zur Erregung neigenden Stil trainieren konnte, lässt sich an der gelegentlich von Dynamik durchgeschüttelten Bildgestaltung erkennen. Dass die Autoren Uran den Ultrabösewicht andichten, legt nahe, dass sie die entscheidenden Akteure nicht an ihren Absichten und Taten messen wollen, sondern einer Ontologie der Naturgewalt, die im Menschen ihren gefährlichsten Komplizen gefunden hat, die Verantwortung geben. Und so lauten die letzten Worte: „Glauben Sie, meine Geschichte ist zu Ende? Oder hat sie womöglich erst begonnen?“ Wir werden alle sterben. Das Uran hat gesprochen.
Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 08/2020
Didier Alcante (Autor), Laurent-Frédéric Bollée (Autor), Denis Rodier (Zeichner): „Die Bombe“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Carlsen, Hamburg 2020. 472 Seiten. 42 Euro