„Eigentlich kann jeder Krebs kriegen.“ Mit diesem Satz beantwortet Tims Mutter, eine Ärztin, mit medizinischer Sachlichkeit die Frage des vielleicht fünfjährigen Jungen, was denn Krebs sei. Es sind Sätze wie diese, die ein ganzes späteres Leben ins Wanken bringen können, wenn sich zum ersten Mal die Erkenntnis ins junge Bewusstsein frisst, dass alles ein Ende hat.
Kunst und Kultur sind monströse Sublimationsinstrumente, sie tätscheln uns den Kopf, damit der selbstoptimierte Blick nach vorne nicht andauernd zum Friedhof abschweift. Oft bieten sie einen ziemlichen Gefühlskarneval, der die Wahrheitspolonaise mit ganz großen Schritten ins Unbewusste führt.
Familien werden, manchmal auch gegen jede Vernunft, gegründet, damit wir nie ganz gehen müssen, Religionen gehegt, weil das Leben überall enden darf, nur nicht im Sarg; die Popkultur hat ganze Genres auf Eros und Thanatos erbaut (Horror, Pornografie, Melodramen, Liebesromane, Dark Wave, Black Metal…).
Der in der DDR aufgewachsene, in Leipzig lebende und als 51jähriger den etwas gereifteren Teil des Lebens antretende Comickünstler, Karikaturist, Illustrator, Drehbuchautor, Trickfilmregisseur und Musiker Schwarwel drückt in seiner fünfteiligen autobiografischen Heftserie „Gevatter“ die Stopptaste beim Verdrängungsspiel und schaut uns ernst wie mitfühlend in die Augen.
Sein Alter Ego Tim tut dies gleich zum Einstieg buchstäblich: Die Gesamtseite zeigt sein Gesicht, sauber aufgeteilt in 3×3-Panelreihen, die Zwischenräume fragmentieren das Konterfei und etablieren metaphorisch das Thema der Erzählung: den Tod und wie das Wissen um ihn ein Ich in Stücke reißen kann.
Diese Seitenkomposition eröffnet alle Hefte, und mit jeder Nummer verschwindet immer mehr Gewebe aus Tims Antlitz. Schwarwels schwarzweißen Zeichnungen mit ihren harten Kontrasten erinnern an eine luftige Version des Stils von Charles Burns, der in seinen Comics dem Verfall ebenfalls sehr prosaische Metaphern abzutrotzen versteht.
Tim, 33 Jahre, steht an der Bahnsteigkante und will springen. Im letzten Moment erinnert er sich aber an einen Pakt aus der Vergangenheit, ruft seinen Freund an, dem er mal geholfen hat, und nimmt nun seinerseits Hilfe in Anspruch. Der Freund vermittelt ihn an einen befreundeten Psychiater und mit wechselndem Fokus oszilliert der Plot zwischen Gesprächssituation und (nicht immer) chronologischen Rückblenden in Tims Kindheit und Jugend.
Es braucht nur wenige Seiten, bis man sich dabei ertappt, wirklich jedes Panel auf das Thema Tod zu untersuchen. Dahinter verbirgt sich die unsichtbare Hand eines begnadeten Comicerzählers: das Zusammenspiel aus Stil und Inhalt so stringent zu dirigieren, dass das Thema nie aus dem Blick gerät, aber genügend Distanz zu wahren, damit die Empathie das Thema nicht grob verschlingt.
Geradlinigkeit wird mit Flashbacks und Traumsequenzen kontrastiert, wir bleiben immer auch im Kopf des Protagonisten. Und die alltäglichen und traumatisierenden Kristallisationspunkte auf den Lebensstationen sind zahlreich.
Manchmal sind sie augenscheinlich, manchmal nur kleine Details: die sehr gruselig inszenierte Großmutter, vor der sich die kleinen Enkel fürchten; der Tod des Hamsters (den der Vater, ebenfalls Arzt, sogleich mit dem Skalpell seziert); kindliche Cowboy-und-Indianer-Kämpfe, die im gespielten Tod enden, „Gespenster Geschichten“-Comichefte aus dem Westen (immerhin lebt das gesamte Horror-Genre von der Manifestation des Verdrängten und Abjekten), Slayers „Angel of Death“-Song, Punk (der „No Future“ zum Programm erklärt), aber genauso das Sterben und die Selbstmorde von Verwandten und Nachbarn.
Besonders verstörend ist eine Vergewaltigung in der Nähe von Tims Familienhaus bei Nacht. Tim, mittlerweile im jugendlichen Alter, sein Vater und ein Nachbar verfolgen den Täter bis zu einem Sportplatz, Tim schlägt dabei mehrfach mit einer Eisenstange auf dessen Schädel ein, aber der Vergewaltiger rennt unbeirrt, nur keuchende Töne ausstoßend weiter. Nachdem sich die Gruppe aufgeteilt hat, entdeckt ihn Tim alleine in einem Gebüsch hockend, regungslos starrend wie ein Tier. Eine schauderhafte Szene, die mit der Ankunft der Polizei aufgelöst wird.
Bis dahin sitzt bei Tim und uns der Schock tief, wie schnell und unbemerkt der Gerechtigkeitswille vom Vergeltungsdrang, die Selbstermächtigung von der Lebensgefahr, das fremde und das eigene Leben vom Tod in einer eskalierenden Situation mit einem Wimpernschlag abgelöst werden kann.
Die bislang veröffentlichten drei der fünf geplanten Hefte zählen zum Besten, was der hiesige Comic derzeit zu bieten hat. Als Gemeinschaftsprojekt mit der Funus-Stiftung sind sie bei Schwarwels und Sandra Strauß‘ Verlag und Animationsstudio Glücklicher Montag erschienen. Editorisch ist viel Liebe zum Detail eingeflossen. Die Aufmachung erinnert an Zeiten, als der selige Indie-Verlag Jochen Enterprises mit ambitionierten Heft-Editionen die 90er durchzustehen half.
Jede Ausgabe beinhaltet nebst weiteren Beiträgen ein Dossier und ein Interview mit Schwarwel sowie mit den Künstler*innen (bislang: Sarah Burrini, Ingo Römling, Sascha Wüstefeld), die die zusätzlichen Variantcover gezeichnet haben. Die letzten beiden Hefte sollen im Laufe dieses Jahres erscheinen.
Diese Kritik erschien zuerst am 23.08.2020 in: Der Tagesspiegel
Schwarwel (Autor und Zeichner): „Gevatter“.
Glücklicher Montag, Leipzig 2019/2020. Bislang 3 Hefte. Je 36 Seiten. Je 3,90 Euro