Zum ersten Film des Abends, der der letzte sein sollte, den ich im Arsenal bei der Reihe „Black Light“ verbrachte, gab es eine Einführung von Kurator Craig de Cuir Jr. Aufgenommen war sie mit einem senkrecht gehaltenen Smartphone. Ein vertikaler Streifen in der Mitte einer Kinoleinwand also. Ein sonderbarer, irritierender Anblick, bei dem sich zwei Medien (das eine noch relativ jung, das andere schon verhältnismäßig alt) eher in die (no pun intended) Quere kamen, als dass sie wirklich zu einer sinnvollen Einheit fänden.
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De Cuir legte in seinen kurzen Worten den Fokus insbesondere darauf, wie sehr der Film, „The Killer of Sheep“ (1977), seiner Ansicht nach die wohl beste und bedeutendste Abschlussarbeit eines Filmschulabsolventen überhaupt, den wir nun von einer makellosen 35mm-Kopie sehen sollten, eine alleinige Großtat seines Machers war: Charles Burnett führte Regie, schrieb das Drehbuch, war Kameramann, erledigte den Schnitt und war Produzent.
Und vermutlich braucht es tatsächlich die Kontrolle eines derartigen total filmmaker, um ein Werk mit einer so eigenen Vision zu erschaffen. Das Werk eines Kontrollfreaks ist „Killer of Sheep“ dabei aber gerade nicht. Vielmehr ist tatsächlich das Schönste an dem Film seine mäandernden Struktur, die sich immer wieder Zeit lässt, den Alltag seiner Figuren im Speziellen und der Hood, dem Watts der Gegenwart des Jahres 1977 zu beobachten (darin ist er Shirley Clarkes Meisterwerk „The Cool World“ nicht unähnlich): Kinder, die auf einer Brachfläche mit Steinen Krieg spielen, sich dabei hinter aus Brettern zusammengezimmerten Bollwerken vor den Steinwürfen der gegnerischen Gruppe verschanzend. Die Ehefrau (Kaycee Moore) des Protagonisten Stan (Henry G. Sanders), die beim Kochen ihre Reflektion im chrom glänzenden Kochtopfdeckel betrachtet. Offenbar zufrieden mit dem, was sie sieht. Ein gemeinsamer Tanz mit Stan vor einem Fenster zur Musik von einer Schallplatte. Schöne kleine Momente der Intimität, des Allein-seins einzeln oder zu zweit, das im Film zugleich – und sei es nur für ein paar Sekunden – einen Ausweg aus der schroffen Lebensrealität des Ghettos bietet. Letztere bedeutet für Stan etwa, dass ihn seine harte Arbeit im Schlachthof nachts nicht schlafen lässt vor Erschöpfung. Während er zugleich versucht, seiner kriminellen Vergangenheit endgültig zu entsagen.
Es sind besagte Momente, die durch die Auflockerung der narrativen Struktur des Films sein deutliches politisches Anliegen auch ein gutes Stück weit transzendieren. Ja, durch die Zwischenschnitte auf das blutige Treiben im Schlachthaus, mit dem der Film auch endet, schließt Burnett die oftmals aussichtslose, zermürbende Situation der afroamerikanischen Ghetto-Bewohner*innen in der weißen Mehrheitsgesellschaft assoziativ kurz mit Schafen, die zur Schlachtbank geführt werden. Zugleich aber macht er seine Figuren dabei an keiner Stelle zu bloßen Platzhalter*innen realen gesellschaftlichen Elends.
Nach Adorno ist „Kunst … Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“ Und die Dialektik im Herzen von „Killer of Sheep“ besteht darin, dass Burnett einen Weg findet, brutale Realität ungeschönt auf die Leinwand zu bringen (wobei es, nebenbei bemerkt, nur einer Zeichentrickhundemaske, die eines der Kinder trägt, bedarf, um seinen Realismus zumindest für einen Augenblick ins Surreale kippen zu lassen), aber dabei seinen Figuren immer wieder ein kleines Refugium bietet.
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Zu Beginn des zweiten Teils des Double Feature wird das europäische Genrekino weggesprengt von der entfesselten Energie des brasilianischen Karnevals. Die monumental anmutende Titeleinblendung von Marcel Camus‘ „Orfeu Negro“ (1959) erinnert deutlich an einen Peplum, jene Sandalenfilme, die das Gros der italienischen Genrefilmproduktion in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern ausmachten, bevor sie ab 1965 von den Italo-Western abgelöst wurden. Eine Sambatanzgruppe, die sich rhythmisch ihren Weg über die Pfade auf den Hügeln oberhalb Rio De Janeiros bahnt, bringt den in Stein gemeißelten Titel förmlich zum Explodieren. Wenn Camus in seinem Film, der die Palme d’Or in Cannes und den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann und den Samba in der westlichen Welt populär machte, den alten griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike in den Karneval von Rio verlegt, werden das im Verlauf des folgenden Films zwei klar voneinander getrennte und doch eng mit einander verwobene Ebenen bleiben. Erst, wenn wir schließlich mit dem Schlagersänger Orpheus (Breno Mello) auf der Suche nach seiner Angebeteten in die Unterwelt gelangen und dann in die gespenstische Szenerie eines leeren modernistischen Verwaltungshochhauses, hören wir den ansonsten konstanten Rhythmus der Trommler nicht mehr im Hintergrund.
Einer Empfehlung des Deutschlehrers von Diederich Diedrichsen – die er in seiner 1985er Lebens-Theorie-Präzisiose „Sexbeat“ wiedergibt – folgend, habe ich immer mehrere Bücher um mein Bett herumzuliegen, die ich parallel lese. Eines davon ist derzeit Stefan Zweigs Brasilien-Buch, das der jüdische Autor im Exil, nach seiner Flucht vor den Nazis schrieb. Dort heißt es: „Lärm zu machen, zu toben, wild zu tanzen, ist hier der Sitte eine derart gegensätzliche Lust, daß sie gleichsam als Ventil aller zurückgestauten Triebe den vier Tagen des Karnevals vorbehalten ist, aber selbst in diesen vier Tagen des anscheinend zügellosen Übermuts kommt es innerhalb einer Millionenmasse gleichsam von einer Tarantel gestochener Menschen nie zu Exzessen, Unanständigkeiten oder Gemeinheiten; jeder Fremde, ja sogar jede Frau kann sich beruhigt auf die quirlenden, von Lärm explodierenden Straßen wagen.“ Wenn sich Zweigs stilistisch wundervolle und durchaus gut gemeinte Beschreibungen in ihrer Idealisierung von Land und Leuten dem alten europäischen Stereotyp des „Edlen Wilden“ mindestens annähern, dann scheint Camus in seinem Film, knapp zwanzig Jahre nach dem Buch erschienen, mindestens in einem eigentlich eher beiläufig beobachteten Detail schon etwas kritischer (obwohl sich der Film immer mitten in den Rausch des bunten Treibens wirft, dem er auch sein Publikum mit Haut und Haaren überantwortet): In einer Szene ganz zu Beginn, wenn Eurydike (Marpessa Dawn) vom Land in die große Stadt kommt, in der ihre Kusine lebt, und zum ersten Mal zum Karnevalsumzug stößt, sehen wir aus der Vogelperspektive, wie verschiedene Männer sie antanzen, obwohl sie schnell und von selbst wieder von ihr ablassen, ist das offenbar etwas, dem sich eine junge attraktive Frau in dieser Situation nur schwer entziehen kann.
Darüber hinaus ist die Darstellung des Karnevals und der ausgelassen Feierenden von gängigem Exotismus eher schwer zu unterscheiden (gerade deshalb soll der Film in Brasilien auch keinen allzu guten Ruf genießen). Das liegt vor allem an dem Farbverfahren, in dem der Film gedreht wurde: Eastman Color. Gerade das Gelb, das so knallig ist, dass es fast in den Augen brennt, lässt einem gar nichts anderes übrig, als sich den Schauwerten dieses Films, der doch merklich einen Blick von außen auf diese Welt bietet, gänzlich hinzugeben. Ähnliches gilt auch für die geradezu unverschämte Weichheit des brasilianischen Portugiesisch. Einem weiteren kolonialen Narrativ (der Darstellung kolonisierter bzw. später entlegener, exotischer „unberührter“ Länder als Frauen) folgend, vor dem ihm weder die Sprache des Meisters noch die Aufklärung des Humanisten zu feien scheinen, schreibt Zweig: „Rio de Janeiro aber bäumt sich einem nicht entgegen – es breitet sich aus mit weichen, weiblichen Armen, es empfängt in einer weit ausgespannten, zärtlichen Umarmung, es zieht an sich heran, es gibt sich mit einer gewissen Wollust dem Blicke hin.“
Auch wenn das Protagonist*innenpaar, wie bereits der Titel verrät, afrobrasilianisch besetzt ist, bleibt der antike Mythos der Abbildung der Feierlichkeiten einer verhältnismäßig jungen Kultur wie der brasilianischen letztlich immer äußerlich. Auch als Schwarze müssen der Schlagersänger Orpheus und seine angebetet Eurydike also letztlich den tragischen Weg gehen, den ihnen die alte Erzählung zudenkt. Es bleiben aber die Kinder, die auf den Hügeln oberhalb von Rio spielen, und nun an Orpheus‘ Stelle ein Lied singen müssen, damit die Sonne über dem Meer aufgehen kann. Dabei scheinen sie zugleich über die Weite des Doppelkontinents hinweg einen Rahmen zu spannen zurück zum Beginn des Kinoabends, zur erste Szene von „Killer of Sheep“.
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Die Erhabenheit der Sonne, die mehrmals im Film über dem Meer aufsteigt und es in ein warmes Rot taucht, verdeutlichte mir auch, warum man analog gedrehte Filme (eigentlich nur) im Kino und von 35mm sehen sollte.
Die Reihe wird noch bis zum 26.08.2020 im Arsenal laufen.