Prolog: Mittelalter-Klamauk mit existentialistischem Ausgang
Ein Mann kauert in einer Ruinenlandschaft. Unter den Fetzen, die er am Leibe trägt, und seinem wallenden, ungepflegten Vollbart ist in der Totalen gerade noch der Schauspieler Bruce Campbell zu erkennen. Im Chaos um ihn herum erkennt man zwischen verschiedenen anderen kaputten Gebäuden die Überreste des Big Ben. Und doch wird aus dem Kontext des Films, der mit diesem Bild endet, klar, dass es nicht um die Verheerung einer Stadt geht, sondern um die der gesamten westlichen Zivilisation. Die reale Tragik dieses Bildes, das – wie so viele der Bilder und Phantasien aus dem scheinbar unendlichen Fundus der Populärkultur – in der Gegenwart der Coronakrise eine andere Qualität bekommt, beißt sich sowohl mit seiner cartoonartigen Überzeichnung als auch mit dem Duktus des Films, dem es entstammt: Sam Raimis „Army of Darkness“ (1992). Das liegt zum einen daran, dass der letzte Teil der „Evil Dead“-Trilogie, anders als seine Vorgänger von 1981 und 1987, eher einer der schwächeren Filme seines Regisseurs ist, und dieses eindrückliche Abschlussbild also letztlich schon einen besseren Film verdient hätte, der ihm vorangeht. Aber zum anderen entspricht es dann doch ganz dem Schaffen Sam Raimis, dass dieser über weite Strecken etwas unausgegorene Mittelalter-Klamauk auf eine derart existentialistische letzte Pointe zusteuert.
Lassen wir kurz Revue passieren, wie es zu diesem Bild kam. „Evil Dead II“ (wie der Vorgänger in Deutschland unter dem Titel „Tanz der Teufel“ vermarktet) verstand sich weniger als Fortsetzung des ersten Teils, sondern erzählte dessen Geschichte noch einmal – mit dem entscheidenden Unterschied, dass dieses Mal ein deutlich höheres Budget zur Verfügung stand. Es geht um eine Gruppe junger Erwachsener, die das Wochenende in einer abgelegenen Hütte im Wald verbringen. Dabei beschwören sie unwillentlich durch das Vorlesen bestimmter Zeilen aus dem uralten, mit Menschenblut geschriebenen und in Menschenhaut gebundenen Buch der Toten, das sie im Keller der Hütte finden, in den Wäldern lebende Dämonen herauf. Diese ergreifen von ihren Körpern und Seelen Besitz und bringen sie dazu, sich gegenseitig zu zerfleischen. Am Ende des zweiten Teils hatte es Ash (Campbell), den letzten Überlebenden durch ein Loch in Zeit und Raum ins europäische Mittelalter verschlagen. Nachdem er gemeinsam mit den Bewohner*innen einer Burg die Armeen der Finsternis geschlagen hatte, will er nun in seine Zeit zurückkehren. Dazu nimmt er eine Art Zaubertrank ein: Jeder Tropfen lässt ihn ein Jahrhundert schlafen. Jedoch verzählt er sich aufgrund einer kurzen Ablenkung, statt sechs schluckt er sieben Tropfen. Und muss also feststellen, dass von der Zukunft des späten 20. Jahrhunderts, in die er zurückkehren wollte, hundert Jahre später nicht mehr viel übrig ist.
Vom Splatterfilm im Wald zum Hollywood-Mogul
Samuel „Sam“ Marshall Raimi, 1959 in eine ungarischstämmige jüdische Familie im kleinstädtischen Michigan geborenen, drehte „The Evil Dead“ auf 16mm in einer verlassenen Waldhütte in Tennessee und an verschiedenen Schauplätzen in Michigan. Der strapaziöse Dreh war für die dreizehnköpfige Crew gekennzeichnet durch bittere winterliche Kälte, Verletzungen und extreme Geldknappheit. Etwa zur Mitte der Fertigstellung kam es zu einer Unterbrechung der Dreharbeiten, in der Raimi, Campbell und ihr befreundeter Co-Produzent Robert Tapert auf verschiedenen Wegen den Rest des sich auf insgesamt 350.000 Dollar belaufenden Budgets beschaffen mussten. Der so entstandene Film gewann mit seinen ausufernden und garstigen Splatter-Effekten, seiner atmosphärischen Dichte und der höchst innovativen Kamera von Tim Philo schnell eine Fangemeinde und entwickelte sich zu einem Klassiker des Genres. Für Raimi bedeutete das den Beginn einer Hollywood-Karriere als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent, die schließlich mit seiner „Spider-Man“-Trilogie (2002, 2004, 2007) ihren Höhepunkt fand. Der 22-jährige Film- und Comic-Nerd, der offenbar mit purer Willenskraft im Wald einen Splatterfilm gedreht hatte, war zu einem der angesehensten und renommiertesten Filmemacher im US-Mainstream-Kino seiner Zeit geworden.
Aus ideologiekritischer Perspektive mag man diese Karriere zunächst skeptisch betrachten. Die Geschichte von den Film-Wunderkindern, die zu Hollywood-Mogulen werden (die Karriere des Neuseeländers Peter Jackson begann ebenfalls mit einem – in diesem Fall im Verlauf mehrerer Jahre – billig zusammengeschusterten Splatter-Film, „Bad Taste“ (1987), und mündete schließlich in der ebenfalls hunderte Millionen schweren „Herr der Ringe“-Trilogie, 2001, 2002, 2003), passte einerseits sehr zum Zeitgeist der Achtziger: eine reale Variation auf eine jener märchenhaften Aufstiegsgeschichten, die Hollywood gerade dort wieder für sich entdeckte, wo die zunehmende Neoliberalisierung der realen Polarisierung der Gesellschaft immer weiteren Vorschub leistete. Andererseits scheinen aber auch die Filme „The Evil Dead“ und „Bad Taste“ selbst für einen politischen Backlash innerhalb des Genres zu stehen, das 1968 durch George A. Romeros „Night of the Living Dead“ nicht nur in seine Moderne geführt, sondern auch extrem politisiert wurde. Die Filme von Romero, Tobe Hooper oder Wes Craven nahmen in den Siebzigern mit ihren blutrünstigen Zombies und Hinterwäldlern immer auch den realen Schrecken von kapitalistischer Konsumgesellschaft und bürgerlicher Kleinfamilie in der Ära von Watergate und Vietnamkrieg mit in den Blick. Raimi und Jackson hingegen schienen das Genre nun in die „Spaßgesellschaft“ zu überführen: Boys just wanna have fun.
Doch zum Glück ist alles mal wieder wesentlich komplizierter. Denn Raimis Entwicklung als Filmemacher nachzuvollziehen, bedeutet auch, ihm dabei zuzusehen, wie er nicht nur seine Handschrift als Auteur immer weiterentwickelt und verfeinert, sondern sich zu den Themen, die sein Werk durchziehen, auch zunehmend ein sozialer Kommentar gesellt. Ist Raimis Kino von Anfang an ein Meta-Kino, das das Kino selbst – und auch darüber hinaus (amerikanische) Populärkultur – reflektiert, dann scheint sich dabei zugleich in ihm das Bewusstsein zu festigen, dass „wer nur vom Kino etwas versteht, auch davon nichts versteht.“
Meta(technologisches)Kino und Reisen durch die Filmgeschichte
Die Bedeutung der Filmgeschichte sowie der technischen Apparatur des Kinos zieht sich durch Raimis gesamtes filmisches Schaffen. Werden im zweiten und dritten „Evil Dead“ Zeitreisen thematisiert, muten auch Raimis Filme selbst immer wieder an wie kleine Reisen durch die Geschichte des Kinos. Bereits in „The Evil Dead“ steckt ein kleiner Durchgang durch die Geschichte verschiedener Medien: vom Buch der Toten über das Tonbandgerät und ein Grammophon bis zu einem Super-8-Projektor. Dass Film – als Medium – alle diese Technologien und Kunstformen vereint, Erzählung, Musik und Bild ist, wird damit nicht einfach als Gegebenheit hingenommen, sondern explizit thematisiert. Und so wie die Kunstform Kino diese älteren Technologien integriert, scheint hier auch die Technik selbst von einem archaischen Bösen heimgesucht zu werden. Mit dem Tonbandgerät werden die dunklen Mächte heraufbeschworen, deren Blick zugleich eins wird mit dem der Kamera, die durch die Wälder rast – auf die Hütte zu. Die Kamera gibt nicht den Blick des Dämons wieder, sondern hebt die Differenz zwischen beiden auf: sie ist der Dämon. Durch Raimis Vorliebe für ausgefallene Kameraperspektiven entsteht das Gefühl, dass man in der Hütte umzingelt ist vom Bösen, das sich in jedem Winkel versteckt (die heutige kontinuierliche Überwachung des urbanen Raums wird damit mindestens ein gutes Stück weit vorweggenommen).
Als gegenläufige Bewegung zur Technologie, die ein boshaft zerstörerisches Eigenleben entwickelt, kommt die Entmenschlichung der Figuren dadurch zum Ausdruck, dass sie als Dämonen selbst zu einem Stück Technologie werden: Sie verwandeln sich in Spezialeffekte. Ein gemeinsamer Freund Raimis und Campbells riet ihnen: „Fellas, no matter what you do, keep the blood running down the screen.“ Dass sie dieser Empfehlung an einer Stelle im Film sehr buchstäblich nachkamen, ist mehr als eine hübsche Anekdote. Blut, das über eine Leinwand (und die Lampe eines Projektors) läuft, ist ein Teil von Raimis Kino, dem es darum geht, das Kino als Affektmaschine beim Wort zu nehmen. In „Darkman“ wird der Versuch unternommen, die Wut der Hauptfigur, des Wissenschaftlers Peyton Westlake (Liam Neeson), möglichst detailliert abzubilden: Adrenalin, das durch seinen Körper schießt, Synapsen, die durchbrennen. Ein weiterer Kurzschluss (die Metapher ist hier entscheidend) zwischen der neuen Möglichkeit des narrativen Kinos zu Beginn seiner zunehmenden Computerisierung am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts und den uralten menschlichen Emotionen (und Affekten). Die Psychologie kennt sieben Grundgefühle: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Ihre ursprünglichen Funktionen haben sie bei unseren Vorfahr*innen in der Steinzeit. Der technologische Fortschritt, der in Raimis Kino immer wieder direkt thematisiert wird, bedeutet für ihn offensichtlich, dass es neue Wege gibt, diese abzubilden.
Das geht bis zu seinem letzten – und leider auch mit Abstand schwächsten – Film „Oz, the Great and Powerful“ (2013), seiner Bearbeitung des ewigen Technicolor-Klassikers „The Wizard of Oz“ (Victor Fleming, 1939). Die schönste und bewegendste Figur des Films ist komplett computeranimiert: eine Porzellanpuppe, eine der Begleiterinnen des Zauberers (James Franco), die im Verlauf des Films zu seiner Patchwork-Tochter wird. Es ist ihre Verletzlichkeit, ihre buchstäbliche Zerbrechlichkeit, die sie zu einer so rührenden wie bewegenden Erscheinung macht. Ihre prekäre Situation entsteht gerade im Zusammenspiel des Neuen – dem digitalen State of the Art des Kinos in einem Disney-Blockbuster von 2013 – und des Alten, Antiquierten: ein Spielzeug, mit dem heutige Kinder nicht mehr spielen, und ein Wesen, das keine physische Realität jenseits des Films hat, nicht aus Fleisch, sondern nur aus Pixeln besteht. Übrigens wird im Finale des Films ein selbst gebauter Kinematograph zu einer wichtigen Waffe im Kampf des Zauberers und der Bevölkerung des sagenhaften Landes Oz gegen die böse Hexe des Ostens (Rachel Weisz).
Im auch hier schwarzweißen Kansas, aus dem es ihn mit seinem Ballon ins bunte Oz verschlägt, arbeitete der Zauberer auf einem Jahrmarkt. Ein Ort, der als derjenige, an dem die Bilder zuerst das Laufen lernten, auch in Raimis Filmen eine gewisse Bedeutung hat. Lässt sich durch „Oz“ seine gesamte Filmografie als Reise zum Ursprung des Kinos lesen, so dient er auch in „Darkman“ (1990) als Fluchtpunkt einer kleinen Reise durch die (amerikanische) Filmgeschichte: von Paul Verhoevens drei Jahre zuvor erschienenem „Robocop“, zu dem er deutliche Parallelen aufweist (beide Filme sind an der Welt des Comics orientiert, ohne dass sie wirklich eine konkrete Comic-Vorlage hätten, und in beiden Filmen geht es darum, dass totgeglaubte Männer in durch neuartige Technologien ermöglichten Formen an ihren vermeintlichen Mördern Rache nehmen), über bspw. wiederum ein Bildzitat aus „The Wizard of Oz“ führt der Weg den Protagonisten, den Wissenschaftler Peyton Westlake (Liam Neeson) mit seiner Freundin Julie Hastings (Frances McDormand) gegen Ende des Films ebenfalls auf einen Rummelplatz. Westlake gelangt durch Hastings zufällig in den Besitz eines Memorandums, das kriminelle Machenschaften ihres Chefs, des Bauunternehmers Louis Strack (Colin Friels), beweist. Der Gangster Robert G. Durant (Larry Drake) besucht Westlake in seinem Labor, um an das Dokument zu gelangen, tötet seinen Assistenten, foltert ihn und sprengt sein Labor in die Luft. Von der Explosion in einen nahen Fluss geschleudert, überlebt er, bleibt aber entstellt. Die künstliche Haut, an der er zuvor arbeitete, gibt ihm die Möglichkeit, jede beliebige menschliche Form anzunehmen – die er nutzt um Drakes Männer einen nach dem anderen zur Strecke zu bringen. Allerdings nur für eine begrenzte Zeit, nach der sich die künstlichen Zellen wieder auflösen.
Ein oft übersehenes Zwischenwerk
In den Neunzigern, zwischen „Army of Darkness“ und dem ersten „Spider-Man“ – und also seinen beiden großen Trilogien -, drehte Raimi vier andere Filme. Durchweg meisterhafte Fingerübungen, in denen er seinen Stil und seine Themen immer weiter ausformulierte, indem er seine Handschrift als Auteur und seinen sehr spezifischen Zugriff auf amerikanische Populärkultur auf verschiedene Genres applizierte. Los ging es mit „The Quick and the Dead“ (1995), einem Comic-Western reinsten Wassers, der einerseits seine Arbeit mit verschiedenen Americana einleitete, die diese Phase seines Schaffens bestimmte. Andererseits war das Material seines postmodernen Spiels mit Zitaten eher der italienische als der amerikanische Western. Zu Beginn sehen wir die von Sharon Stone gespielte Protagonistin auf einem Friedhof, der deutlich dem aus Sergio Corbuccis „Django“ (1966) nachempfunden ist. Ihre Backgroundgeschichte hingegen erinnert merklich an die der Charles-Bronson-Figur in Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968).
Diese Referenzen sind dabei jedoch kein eitler Selbstzweck, sondern Teil eines subversiven Zugriffs aufs Genre, einer feministischen Reformulierung. Dass die archetypische Figur des namenlosen Fremden, der auf der Suche nach Rache in ein gottverlassenes Städtchen kommt, hier zu einer Fremden wird, die zugleich, indem sie sich am Anfang eine Nacht lang besoffen mit dem jungen Revolverhelden Kid (Leonardo Di Caprio) vergnügt, auch ihre Sexualität selbstbestimmt lebt, ist dabei erst der Anfang. So markieren die häufigen Momente, in denen Stones Augenpartie die Leinwand ausfüllt – eine Art der Einstellung, die wegen ihres Einsatzes im Italo-Western „italienische“ genannt wird –, dass der Blick auf die Welt des Films ihrer ist. Die Pointe dabei ist, dass durch diesen Blick die männlichen Manierismen der anderen Figuren in ihrer Performativität sichtbar werden. Drei Jahre nachdem Judith Butler mit ihrem Buch „Gender Trouble“ neue Möglichkeiten eröffnet hatte, über die Konstruktion von Geschlecht(ern) nachzudenken, hat Raimi einen Film gedreht, der ausdrücklich verschiedene Konstruktionen von Männlichkeit verhandelte.
Wenn es immer wieder Szenen gibt, in denen wir durch die Löcher blicken, die (nicht nur, aber vor allem) Stone in Gegenstände und Menschen schießt, dann ist das auch ein buchstäblicher Akt des Durchschauens. Schon die Idee eines Duell-Wettbewerbs, veranstaltet von dem bösen Patriarchen (Gene Hackman), der den Ort mit hemmungsloser Grausamkeit regiert, unterstreicht das Performative. Und zugleich scheint bei diesem tödlichen Spiel der Tod selbst auch die Grenzen der Performance aufzuzeigen. Die Männlichkeit, die ihre Toxizität schon darin offenbart, dass sich die Männer damit brüsten, wie viele Menschen sie ermordet haben, und die zugleich gewissermaßen intersektional gedacht ist, weil die Variation ihrer Ausdrucksformen auch mit anderen Identitätsmerkmalen wie Race, Alter oder Klassenzugehörigkeit zusammenhängt, wird durch Angst und Agonie brüchig.
Wo der Colt hier im Sinne seines Erfinders als brutaler Gleichmacher fungiert, geht es auch im Nachfolger „A Simple Plan“ (1997) um den Zusammenhang zwischen dem Speziellen und dem Allgemeinen. Auf der einen Seite ist das einer dieser Thriller in einer verschneiten Kleinstadt im Mittleren Westen, wie sie im US-Genrekino der Zeit beinahe ein eigenes kleines Subgenre bildeten. Auf der anderen Seite verhandelt der Film als klassisches Morality Play allgemein Menschliches, stellt die ewige Frage, was ganz „normale“ Mittelschichtsmenschen tun würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, auf einen Schlag so reich zu werden, dass sie sich über Geld nie wieder Gedanken machen müssten. Raimi erzählt die Geschichte einer Tragödie, einer Lawine der Ereignisse, die durch Zufall, ein „Schicksal“, dessen Agenten ein Fuchs und ein Schneeballwurf sind (und das also offenbar als Teil der Natur gedacht ist), losgetreten wird. Und die im weiteren Verlauf durch Psychologie, durch einen Haufen immer fatalerer Entscheidung am Laufen gehalten wird – bis diverse Menschen den Tod gefunden haben und auch das Dasein der Überlebenden auf ewig von den Ereignissen gezeichnet bleiben wird.
Vielleicht das auffälligste von Raimis visuellen Markenzeichen ist, dass er eine bestimmte Art gefunden hat, den Flug von Objekten durch die Luft zu visualisieren. Aus dem Schneeball in „A Simple Plan“, durch den drei Freunde im Wald ein abgestürztes Kleinflugzeug und einen enormen Geldschatz in dessen Inneren finden, wird in „Aus Liebe zum Spiel“ („For Love of the Game“, 1999) ein Baseball. In beiden Fällen markiert der Raimismus eine Aneignung des Stoffes: Was so beginnt, ist sein Morality Play, sein Film über die Liebe zum Spiel. Dem alternden Baseballstar Billy Chapel (Kevin Costner) bleibt nur ein Tag, um seine Profikarriere bei den Detroit Tigers würdevoll und erfolgreich zu beenden – und zugleich seine Beziehung zu Jane (Kelly Preston) zu retten. Nach fünf Jahren voller Höhen, Tiefen, einem beständigen Sich-Auseinanderleben, um wieder zusammenzufinden. Die Geschichte vom Mann, der in Raimis erstem Scope-Film den Tag retten muss, ist mit ihren spektakulären Baseballszenen, in dennen er das gemeinsame Erleben des Spektakels, das verbindende Moment von „America‘s favorite pastime“ unterstreicht, auch eine Verteidigung des Kinos in ebender Zeit, in der das Filme-alleine-zuhause-sehen durch die DVD gerade grundlegend revolutioniert wurde.
Und auch als Liebesfilm blickt er auf einen Paradigmenwechsel in der unmittelbar bevorstehende Jahrtausendwende: Die Heirat ist (auch in Langzeitbeziehungen) optional geworden, Patchwork-Konstellationen sind normal, Seitensprünge sind – beim Mann und bei der Frau gleichermaßen – verzeihlich. Wenn das Spiel der Liebe weiterhin Regeln folgt, sind diese doch mehr und mehr zur Verhandlungssache geworden – und der festen Überzeugung des Films, dass es auch für festgefahrene Beziehungsmuster und Probleme eine Lösung gibt, wenn die Grundlage da ist, miteinander zu reden, sich auszutauschen, wohnt durchaus auch ein utopisches Moment inne. Dennoch ist offenbar gerade noch das Jahrhundert, in dem Kevin Costner beim Monopoly-Spiel mit seiner Freundin und deren Teenage-Tochter in einem PG-13-Hollywood-Liebesfilm sich eine dicke Zigarre anstecken darf.
Lebt Raimis Kino so sehr vom Spiel mit verschiedenen Americana, dass sich sein Gesamtwerk fast wie eine virtuelle Karte der USA ausnimmt, bei der jeder neue Film (wenn man sich die „Spider-Man“- und „Evil Dead“-Trilogien als jeweils einen Film vorstellt) ein kleines Fähnchen in eine weitere Region steckt, dann leistete er 2000 mit „The Gift“ seinen Beitrag zum Genre des Southern Gothic. Zugleich hallt in seinem zweiten weiblich perspektivierten Film deutlich der erste, „The Quick and the Dead“, nach: Wieder geht es um eine Frau, deren Geschichte durch ein traumatisches Verlusterlebnis bestimmt ist. Diesmal ist es die Witwe Annie (Cate Blanchett), die nach dem Tod ihres Mannes alleine für ihre beiden Kinder Sorge tragen muss. Wieder hat sich die Frau, die sich ihren spärlichen Lebensunterhalt mit ihrer seherischen Gabe verdient, dem Filz patriarchaler Strukturen zu stellen. Insbesondere der gewalttätige Donnie Barksdale (Keanu Reeves) hat es auf sie abgesehen, weil seine rückschrittliche Auslegung des Christentums eine Hexe in ihr sieht – und ihr vorwirft, er würde seine Frau Valerie (Hillary Swank), die er regelmäßig verprügelt und anderweitig misshandelt, gegen ihn aufhetzen. Als Donnie auch ihr gegenüber immer brutaler übergriffig wird, bieten ihr die Behörden der Kleinstadthölle, in der jeder jeden kennt und eine Hand die andere wäscht, kaum Schutz.
Einmal mehr erschafft Raimi in einem bis in kleinste Nebenrollen großartig besetzten Film (insbesondere die große Serien- und Nebenrollen-Darstellerin Kim Dickens und Katie Holmes, die zeitgleich Joey Potter in der Serie „Dawson‘s Creek“ (Kevin Williamson, 1998-2003) verkörperte, verstehen zu begeistern) eine düster funkelnde Welt, in der das Böse der Gesellschaft auf archaische Kräfte tritt, die in der verwunschen düsteren Märchenwelt der Sümpfe wirken. Einem Ort, dessen feuchtes Klima nicht nur die Grenze zwischen Realität und Vision, sondern auch zwischen Leben und Tod aufzuweichen scheint. Die Allianzen zwischen den Außenseiter*innen, die ihnen in einer feindlichen Umwelt einzig Halt zu geben vermögen, scheinen hier bis ins Jenseits zu wirken.
Die „Spider-Man“-Trilogie oder: wie man an der Spitze ankommen und doch auf dem Boden bleiben kann
2002 war Sam Raimi schließlich am Ziel angelangt, der Horrorfilm-Buff und Filmemacher aus Leidenschaft war mit „Spider-Man“ in die Riege der Multimillionen-Blockbuster-Regisseure aufgestiegen. Und auch der Film erzählt davon, was es heißt auf dem Teppich zu bleiben, wenn sich das Leben schlagartig auf spektakuläre Weise verändert. Nachdem Peter Parker (Toby Maguire), der Nerd von nebenan aus einer Suburb in Queens, bei einem Klassenausflug von einer genetisch veränderten Spinne gebissen wird, bekommt er auf einmal Superkräfte: Er kann sich an den Fäden, die er aus seinen Handgelenken schießt, durch die Straßenschluchten New Yorks schwingen und mit seiner unglaublichen Beweglichkeit Bösewichter aller Art ihrer gerechten Strafe zuführen.
Die Verwandlung von Peter zu Spider-Man verbindet der Film zugleich mit den Veränderungen in der Pubertät. Was auch heißt: so elegant und souverän sich der Heranwachsende auf einmal gegen die Gesetze der Schwerkraft oder den berüchtigten Bully aus seiner High School auch zu behaupten vermag, so schwierig bleibt es doch weiterhin, mit dem Mädchen von nebenan, der seit seiner Kindheit angebeteten Mary J. Watson (Kirsten Dunst), ins Gespräch zu kommen. Die zerrütteten Verhältnisse, denen die junge Frau zu entkommen trachtet, sind ein perfektes Beispiel dafür, wie sehr Raimi seine Superheldengeschichte im realistischen Milieu einer prekären Vorstadt-Mittelschicht erdet. Die Spaltung seiner Hauptfigur in das Spinnenwesen und den Jugendlichen, der sich weiterhin mit alldem herumzuschlagen hat, was die Adoleszenz eben so mit sich bringt, ist auch der Unterschied zwischen der Glitzerwelt Manhattans und dem Middle America, das auf der anderen Seite des Flusses beginnt – und das Raimi wiederum mit der märchenhaften Anmutung der Filme akzentuiert, an der sicherlich der sublime Score von Danny Elfman einen gewissen Anteil hat. Und weil sowohl Spider-Man in seinem Kostüm als auch die Häuserschluchten von Manhattan, durch die er sich schwingt, computeranimiert sind, scheinen sie schon rein physisch einer anderen Ordnung anzugehören als das Queens, in dem hauptsächlich der Darsteller Maguire auftritt.
Dass Raimis „Spider-Man“-Trilogie die Messlatte fürs Blockbusterkino des 21. Jahrhunderts denkbar hoch hängt, liegt auch daran, wie souverän und mühelos er es schafft, die Filmsprache, die er in anderen Produktionszusammenhängen und Budgetklassen entwickelte, ins ganz große Blockbustergeschäft zu überführen. Gerade der erste „Spider-Man“ quillt geradezu über vor Raimismen: von jenen Montagesequenzen, die fieberhafte Arbeitsprozesse abbilden, indem sie mit einer speziellen Überblenden-Technik Gegenstände durchs Bild fliegen lassen, über unzählige Bildzitate aus den „Evil Dead“-Filmen und seinem exzessiven Einsatz von Spiegeln bzw. Doppelgängern bis zu den Cameos von Bruce Campbell: In allen drei Filmen schlüpft er in eine andere kleine Rolle, die die ganze Bandbreite seines (schmieren)komödiantische Talents zeigen. Überhaupt sind die Filme, einmal mehr, bis in die winzigsten Nebenrollen hervorragend besetzt. Gerade J. K. Simmons (der bereits in „For Love of the Game“ und „The Gift“ in Nebenrollen glänzte) begeistert als Zeitungsverleger J. Jonah Jameson, dessen Geiz und Gier nur noch von der Geschwindigkeit übertroffen wird, mit der sein Mundwerk knurrige Sprüche abfeuert: die pure Essenz einer Comic-Figur.
Weil sich das, was Raimis Kino von jeher ausmachte, hier mit den neuen digitalen Möglichkeiten des Kinos verbindet, gelingt es den Filmen, angenehm altmodisch zu wirken und doch zugleich mit in dieser Brillanz vorher nie gesehenen Set Pieces aufzuwarten. Geht es in Raimis Kino spätestens seit dem zweiten „Evil Dead“ darum, Wege zu finden, das filmische Kontinuum von Raum und Zeit zu verändern, den Raum in ungeahnter Weise zu dehnen und zu verzerren und den einzelnen Augenblick spektakulär in die Länge zu ziehen, dann schafft er im zweiten „Spider-Man“ dabei einige der eindrücklichsten Actionszenen des bisherigen Jahrhunderts. Insbesondere, wenn er die gesamte Besatzung einer New Yorker Hochbahn vor seinem Gegenspieler Doctor Octopus (Alfred Molina) retten muss, entsteht Spektakelkino der atemberaubendsten Sorte. Wobei das ganz große Pathos, das gutes Superheldenkino immer auszeichnet, die affektive Wucht dieser Achterbahnfahrt ins Unermessliche steigert. Man fühlt sich überrollt von dieser Szene. Und während jeder Moment bedeutungsschwer ausgewalzt wird, vergehen die fast 140 Minuten, die die Extended Version des Films dauert, doch wie im Flug.
Das Kino der ganz großen Gefühle, das schon dadurch zur Welterzählung ausgeweitet wird, dass es die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen abbildet und anspricht, verbindet die Trilogie zugleich mit einem Diskurs, in dessen Zentrum die Begriffe „Verantwortung“ und „Entscheidung“ stehen. Die immer melancholischeren Gegenspieler Spider-Mans spiegeln ihn nicht nur darin, dass auch sie allesamt „gespaltene Persönlichkeiten“ sind, ein Doppelleben führen. Sondern auch ihre Entwicklung wird bestimmt durch ein traumatisches Verlusterlebnis. In den ersten beiden Filmen werden aus den angesehenen Wissenschaftlern, deren Forschungen die Welt verändern könnten, die Superschurken Green Goblin (Willem Dafoe) und Doctor Octopus. Im dritten ist ein Dieb (Thomas Haden Church) aus nachvollziehbaren Gründen auf die schiefe Bahn geraten – und wird dadurch zum unglaublich verletztlichen Superschurken Sandman. Es sind tiefe Verletzungen, die aus ehrbaren Männern skrupellose Agenten des Chaos machen.
Hätte es dafür auch längst keine weiteren Belege mehr gebraucht, zeigt sich auch daran, wie Raimi seine Trilogie beschließt, seine Autorenhandschrift: Die Filmtrilogie, deren Teile ein einheitliches Werk bilden, eine Kunstform, die eigenen Regeln folgt, ist im Blockbusterkino der Gegenwart eher ins Hintertreffen geraten. Das liegt vielleicht auch daran, dass sie eben grundsätzlich anders funktioniert als die immer neuen Sequels und Seitenerzählungen, mit denen heutige Cinematic Universes in alle möglichen Richtungen expandieren. Genau, wie wir es in der angewandten Genretheorie von Wes Cravens „Scream“-Filmen (1996, 1997, 2000, der 2011 nachgeschobene vierte Teil verstand sich als Remake des ersten) gelernt haben, geraten auch in „Spider-Man 3“ grundsätzliche Gewissheiten über die Vergangenheit ins Wanken, erhält der Verlauf der Origin Story der Figur im ersten Teil eine entscheidende neue Volte. Zugleich gibt es dabei einen DePalmaesken Twist: Seinen Augen zu trauen, sich auf das zu verlassen, was man gesehen zu haben meint, kann im Kino manchmal ein trügerischer Impuls sein.
Epilog: Ein kleiner großer Horrorfilm und das Verhältnis von Mensch und Maschine
Mit „Drag Me to Hell“ kehrte Raimi dann zwei Jahre später zu seinen Wurzeln zurück: Das erste Mal seit dem zweiten „Evil Dead“ (der dritte vertiefte ja eher die Fantasy-Komponente des Stoffes) inszenierte er wieder einen (post)klassischen Horrorfilm. Zudem wechselte er von einem Budget von über 250 Millionen zu einem von „nur“ 30 Millionen. Dabei bewies er einmal mehr, wie souverän er verschiedene Stoffe zu behandeln verstand, indem er einen Film vorlegte, der trotz aller comichafter Überzeichnung blanken Schrecken hervorrief, was nicht zuletzt an einem beeindruckenden Sound Design lag, das den Effekten und Jump Scares eine ungewohnte Tiefe verlieh. Wenn das Grauen auf einmal ins Leben der Hauptdarstellerin dringt, dann liegt das auch daran, dass über dem Los Angeles, in dem der Film spielt, von Anfang an eine leise Melancholie lag. Ein gewisses Unbehagen an der technisierten Gesellschaft der Gegenwart, unter der etwas Archaisches zu brodeln scheint – bis sich in der letzten Einstellung ein buchstäblicher Schlund auftut, der geradewegs in die Hölle führt.
Was wir in der letzten Einstellung unter den digitalen Bedingungen des Kinos der 2010er sehen, ist ein Mensch, der in der Maschine verschwindet, von ihr verschlungen wird. Wenn das Kino immer auch eine technologische Apparatur ist (Bilder müssen aufgenommen, entwickelt und auf eine Leinwand projiziert werden), dann geht es mit der expliziten Bedeutung, die das Kino Sam Raimis von „The Evil Dead“ an der Technologie beimisst, bei ihm zwangsläufig um ein Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, das mit jedem Film ein bisschen anders gedacht, neu kalibriert werden muss. In der „Evil Dead“-Trilogie bemächtigt sich die Maschinerie den Figuren und verwandelt sie schließlich in ein Stück Technik. Die „Spider-Man“-Trilogie erzählt davon, wie die Maschine (im technologischen Sinne: Spezialeffekte, und auf der Ebene der Handlung: die Züchtung der Superspinne) aus dem Durchschnittsmenschen einen Helden machen – der doch immer darum kämpfen muss, seine menschliche Hälfte nicht zu verlieren, und sich überdies nicht nur mit Adoleszenzproblemen, sondern auch (insbesondere im zweiten Teil) mit dem Irrsinn des Spätkapitalismus rumzuschlagen hat. Im dritten Teil bekommt er es nicht nur mit dem Sandman zu tun, sondern auch mit einem dunkeln Doppelgänger seiner Selbst, Ruhm als einer schwarzen Masse, die wiederum droht, ganz von ihm Besitz zu ergreifen, ihn zu verschlingen.
In Ramis schwächeren Filmen scheint sich der Konflikt zwischen Mensch und Maschine wiederum auf einer andern Ebene zu vollziehen: beim Einsatz der technischen Mittel, insbesondere seiner Stop-Motion-Hommage an Ray Harryhausen, verliert Raimi in „Army of Darkness“ etwas den Überblick über die Dramaturgie: Zum ersten Mal scheint das Verhältnis von Erzählung und Technik nicht wirklich ins Gleichgewicht zu finden. Wie in „Oz – The Great and Powerful“ die Maschinerie in der Erzählung schließlich das Böse bezwingt, siegt sie auf einer Metaebene auch über Regisseur und Darsteller*innen: Die Besetzung ist durchweg gut (besonders James Franco ist charmant genug, um dem liebenswürdigsten Betrüger der Filmgeschichte eine angemessene neue Gestalt zu verleihen), die Handschrift Raimis klar zu erkennen (auch in einem nunmehr reinen Kinderfilm lässt er es sich nicht nehmen, seinem Splatter-Debüt ausgiebig Tribut zu zollen, Bruce Campbell-Cameo inklusive), trotzdem kommen sie nicht gegen das stromlinienförmige digitale Bilder-Einerlei eines Disney-Films seiner Zeit an. Dass es eine gänzlich computerannimierte Figur ist, die am meisten beeindruckt, ist da durchaus symptomatisch.
(Etwas andere verhält es sich mit dem dritten Raimi-Film, mit dem ich einige Probleme habe: seiner zweiten Regiearbeit „Crime Wave – Die Killer-Akademie“ (1985). Hier ist es eher das Verhältnis zwischen Raimis eigener Handschrift und die der befreundeten Coen-Brüder, die am Script mitschrieben. Die tiefschwarze Komödie ist temporeich erzählt, (mitunter extrem) lustig und wartet mit einigen atemberaubend tollen Musical-Nummern auf, aber die Figuren beißen sich merklich mit Raimis eigener Form von Humanismus: Sie werden letztlich zu Abziehbildern, Platzhalter*innen für denkbar zynische Pointen. Was in den eigenen Regiearbeiten der Coens oft vortrefflich funktioniert, führt hier dazu, dass der Regisseur und sein Film nie wirklich zueinanderfinden.)
Wie man bei der IMDb lesen kann, soll Raimi, der in den sieben Jahren, die sein „Oz“-Film nun schon wieder her ist, weiterhin als Produzent sehr umtriebig sein, unter anderem an einem Sequel zu „Doctor Strange“ (Scott Derrickson, 2016) arbeiten, das sich in pre-production befinden soll. Bleibt zu hoffen, dass sich der Auteur dieses Mal gegen die Disney-Bildermaschine durchsetzen kann. Jemand, der es versteht, das Verhältnis von Mensch und Maschine im Kino grundlegend zu überdenken, kann der Blockbuster-Einöde der Gegenwart jedenfalls bestimmt nicht schaden.