Black Light: Nicht eine afroamerikanische (Film)Kultur, sondern viele (Teil 4)

"The Cool World" (Shirley Clarke, USA 1963)
von Nicolai Bühnemann

Erster Kinobesuch seit Beginn des Lookdowns, also seit knapp fünf Monaten. Und dann geht es gleich los mit einem wirklich tollen und sehr schwer verfügbaren Film von einer makellos schönen, absolut cleanen 35mm-Kopie!

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Als ich zu dem Film, auf den ich erstmals durch eine euphorische Letterboxd-Review des (auch persönlich) geschätzten Filmkritikerkollegen Lukas Foerster aufmerksam wurde, ein wenig recherchierte, ergab das zweierlei: Es gibt bis heute keine Heimmedienveröffentlichung, kein legal vermarktetes Digitalisat. Und er basiert auf einem Roman von Warren Miller, den ich irgendwann in den späten Neunzigern mit der Faszination für alles Afroamerikanische eines adoleszenten hip hop head verschlungen habe, der mich damals stark beeindruckte. Die einzigen Erinnerungen, die ich daran hatte bzw. die während des Screenings zurück ins Bewusstsein kamen, war die Prämisse eines adoleszenten Gangmitglieds in Harlem, Duke (im Film: Rony Clanton), das davon träumt, das Geld für eine Pistole zusammenzubekommen – und eine Szene, in der seine Freundin Luanne (Yolanda Rodríguez) ihm erzählt, dass sie unbedingt einmal nach San Francisco wolle, weil es dort einen Ozean gäbe. Er antwortet ihr: Den gibt es auch in New York gibt, im mit der U-Bahn erreichbaren Coney Island.

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Shirley Clarke erzählt also in dem Film, den sie auf Basis von Millers Roman und der Theateradaption von Robert Rossen gemeinsam mit Carl Lee schrieb und selbst inszenierte, durchaus eine Geschichte. Sie folgt einer leidlich bekannten narrativen Formel: dem immer weiteren Abgleiten eines Jugendlichen in die Harlemer Halbwelt, das für ihn schließlich (vermutlich) im Knast endet, und bedient sich mindestens in einzelnen Szenen – in dieser Hinsicht besonders prägnant: die Auseinandersetzung von Dukes Bande mit einem bekannten Junkie – eines gängigen Spannungsaufbaus.

Das Tolle an „The Cool World“ ist allerdings, dass nicht so sehr sie selbst, sondern eher wir: ihr Publikum, das immer wieder vergessen. Viel mehr als um eine Geschichte geht es der Filmemacherin, die nicht von ungefähr für ihren Dokumentarfilm „A Portrait of Jason“ noch am ehesten erinnert wird, darum, das Wesen eines konkreten Orts zu einer konkreten Zeit zu durchdringen: das Harlem der frühen Sechziger. Immer wieder fängt die Kamera das rege Treiben auf den Straßen ein: Tagsüber spielen die Kinder, reden Frauen und Männer miteinander, auf den Treppenabsätzen ihrer einstöckigen brown stones sitzend, nachts strahlen die Straßenlaternen und die Leuchtreklamen der Clubs und Bars, reflektiert der regennasse Asphalt funkelnd das Licht. Immer wieder verliert sich die agile Handkamera fast bei diesen oft minutenlang andauernden Beobachtungen (aber eben immer nur fast).

Es entsteht ein Flow, der keiner der Erzählung ist. Dazu kommt: Der Film ist, wie Lukas schreibt, „[o]ne of the first and purest spoken-word-pieces of cinema“. Ein Stream-of-Concsiousness-Film auch. Aber die Wörter auf der Tonspur, Gespräche, laut ausgesprochene Gedanken, fließen weder wirklich je mit den Bildern zusammen noch stehen sie in einem anderen kontinuierlichen, klar definierbaren Verhältnis zueinander, etwa dem eines einfachen Kontrasts. Ihre Beziehung zueinander wechselt von Szene zu Szene. Was da fließt, kann es nur in dieser Form, weil es beständig die Richtung wechselt.

Was für die Narration gilt, gilt auch für die Botschaft des Films: Niemals lässt Clarke zu, dass sie sich den Flüssen der Bilder und Worte in den Weg stellen, Staudämme errichten würde. Die politische Ebene des Films entsteht hauptsächlich durch eine Reihe von Ersatzvätern, die sich dem vaterlosen, bei seiner Großmutter aufwachsenden Protagonisten anbieten: ein Straßenprediger gleich zu Beginn, der an einer Ecke auf einer Kiste stehend von den Verbrechen des weißen Mannes und einem schwarzen Jesus erzählt. Der Lehrer und der Busfahrer, beide weiß, die zu Beginn mit Duke und seiner Schulklasse einen Ausflug ins südlichere Manhattan, das Zentrum der Stadt, unternehmen. Schließlich der Gangster und Zuhälter, dem Duke den Revolver abkaufen möchte, mit seinem Namen schließt sich ein Kreis zur ersten Szene des Films: Priest (Drehbuchcoautor Carl Lee).

Die Schusswaffe, für die Duke schier unerreichbare fünfzig Euro aufbringen müsste, bedeutet für ihn nicht allein Macht auf der Straße, in den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Gangs. Vielmehr kristallisieren sich in ihr seine Träume von einem anderen, besseren Leben, vom Ausweg aus dem Ghetto. Das „piece“, wie es im englischen jive der Zeit hieß, stellt für ihn einen Teil dar, ohne den er und sein Leben nicht komplett sind – und es nie werden könnten.

Dass der falsche Traum davon, endlich ein ganzer Mann zu sein, nie mit dem tatsächlich besseren Leben zusammenfinden kann, dass das Jungenspielzeug, das die Pistole für Duke und seine Freunde zunächst ist, als Priest sie ihm zuallererst ausleiht, eigentlich eine tödliche Waffe ist, bildet den Kern von Clarkes Meisterwerk. Aber das ist bei ihr eben gerade keine Sache des Inhalts. Es sind die verschiedenen formalen, ganz basalen Elemente des Films, die Bilder und die Tonspur, die niemals wirklich zusammenkommen, zusammenfließen können.

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Eine kurze, aber ebenfalls sehr schöne Letterboxd-Huldigung der Szene, in der Luanne endlich den Ozean in Coney Island sieht, stammt von Kamil Moll: „Shirley Clarke understands why Coney Island might as well be the ultimate dream world: getting lost there on a rainy afternoon is the most auspicious escape from Determination.“

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Duke, sein forschender Blick über die Straße, über seine coole Welt, auf dem Kopf die für diese Zeit und dieses Milieu so typische Schiebermütze, hängt als Plakat zur Serie nun neben meiner Zimmertür. Im (ausschließlich geöffneten) großen Saal des Arsenals waren beim zweiten Screening des Films kaum die Hälfte derjenigen roten Sessel, die nicht durch ein weißes Klebebandkreuz gesperrt waren, besetzt.