Die Idee zur längsten Dokumentation der Filmgeschichte stammt aus der DDR: „Die Kinder von Golzow“, wie die 22 Filme umfassende Reihe heißt – insgesamt sind es über 40 Stunden Spieldauer -, kann heute als eine Art Klassiker der Filmgeschichte gelten, nicht nur jener der DDR. Der letzte der Filme hatte 2008 seine Premiere auf der Berlinale. „Der Zensor ist heute der Markt“, sagte die Filmemacherin Barbara Junge damals dem Evangelischen Pressedienst. „Auch weil das ein starker Gegner ist, lassen wir es jetzt mit ›Golzow‹ lieber sein.“
Eine Handvoll ausgewählte Grundschüler und -schülerinnen der Jahrgänge 1953 bis 1955, so die Ursprungsidee, sollte über viele Jahre hinweg mit der Kamera begleitet werden, bis in ihr späteres Leben als stolze, mündige Erwachsene hinein. Dem nebenan prosperierenden Kapitalismus und der Nachwelt sollte – wenn alles so klappte wie vorgesehen – gezeigt werden, wie der neue, in einem gerechteren, menschenfreundlicheren Gesellschaftssystem aufwachsende Erdenbürger zu einem besseren Menschen wird. Was zwangsläufig passieren musste, denn der Sozialismus, das wusste man, war allen anderen Gesellschaftsformen überlegen. Der Einfall, die Kinder langfristig mit der Kamera zu begleiten, stammte vom DEFA-Dokumentarfilmregisseur Karl Gass (1917-2009).
Die Dreharbeiten für die filmische Langzeitbeobachtung von Schulkindern im brandenburgischen Oderbruch, in der 1000-Seelen-Gemeinde Golzow, begannen 1961, wenige Tage nach Beginn des Mauerbaus. Wie schon erwähnt: „Als die DEFA das Projekt beschließt, gibt es ein großes Ziel: Man will zeigen, wie die DDR bis zum Jahr 2000 den Sozialismus aufbaut.“ (MDR) Entsprechend sehen wir in den frühen Aufnahmen fröhliche Kinderaugen aufgeweckt in die Kameras blicken. Das Heile-Welt-Geflöte der Filmmusik, die ganz in der Ästhetik jener Zeit daherkommt, versöhnt uns mit der Realität, und gleichzeitig ertönt aus dem Off in der Regel ein biederer, onkeliger Erzählton, der uns über die Schönheit der unwiederbringlichen Zeit der Kindheit informiert.
Man merkt den frühen Filmen an, dass hier nichts Unbotmäßiges, Sperriges produziert werden sollte, dass man vielmehr die Vorzüge eines behüteten Aufwachsens im besseren, sozialistischen Staat ausstellen wollte, was selbstverständlich in Form und Machart der frühen Filme eingegangen ist: Glückliche, sonnenbeschienene, vielversprechende Jugend in einem modernen, fortschrittlichen Staatswesen. Der Dokumentarfilm als eine Art Staatsreklameschaufenster, in dem Bewegtbilder vom gelingenden Leben ausgestellt werden.
Regie führte Winfried Junge, seinerzeit Regieassistent bei Karl Gass. Den Beteiligten, seien es nun die 18 Kinder oder die Dokumentarfilmer, dürfte damals einiges nicht bewusst gewesen sein. Weder haben sie geahnt, dass der Staat, in dem sie geboren wurden oder an den sie glaubten, 30 Jahre später nicht mehr existieren wird, noch wussten sie, was sie nach dessen Ende erwarten wird, nämlich eine Gesellschaft, in der vor allem zwei Gesetze gelten: Jeder gegen jeden. Und: Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Weg in die Arbeitslosigkeit oder in die Depression ist für den einen oder die andere der Porträtierten, die nicht gerade zu den sogenannten Wendegewinnern zählen, vorgezeichnet.
Nahezu 50 Jahre lang – von 1961 bis 2007 – werden die beiden Filmemacher, das Ehepaar Barbara und Winfried Junge, ihre Golzowerinnen und Golzower am Ende mit der Kamera begleitet haben. Zumindest jene ihrer Schützlinge, die nicht gestorben oder nach der sogenannten Wende von 1989/90 aus dem Projekt ausgestiegen sind. Einige sind der Filmerei überdrüssig geworden, wollten sich nicht mehr länger bei alltäglichen Verrichtungen, Sonntagsausflügen oder beim depressiven Herumsitzen beobachten lassen, wollten nicht mehr länger ihren bisweilen freudlosen Alltag im Realkapitalismus ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt sehen. Das Ehepaar Junge wird viel gesehen haben. Auch solches, das ursprünglich nicht vorgesehen war, zu Dokumentarfilmgeschichte zu werden.
Im Großen und Ganzen bleibt das Filmemacher-Ehepaar den von ihnen Porträtierten gegenüber in all den Jahrzehnten stets freundlich gesonnen, wenn auch Winfried Junges zuweilen drängendes, beharrliches und suggestives Ausfragen der von ihm Gefilmten in der Vergangenheit nicht nur dem einen oder anderen der von ihm Befragten auf die Nerven gegangen sein dürfte.
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) zeigt nun von Mitte Juni bis Mitte August zehn Filme aus der „Golzow“-Reihe, die nach der sogenannten deutsch-deutschen Wiedervereinigung entstanden sind: 24 Stunden, 19 Minuten.
Wer zwei der älteren, in der DDR entstandenen Filme der Reihe sehen möchte: Zum 85. Geburtstag des in Berlin geborenen Regisseurs, der am 19. Juli bevorsteht, veranstaltet das Filmmuseum Potsdam ihm zu Ehren einen „Kinotag“. Am 5. Juli sollen die Filme „Anmut sparet nicht noch Mühe“ (1979/80, 107 Min.) sowie „Lebensläufe“ (1980, 257 Min.) vorgeführt werden.
Zehn Dokumentarfilme der Reihe, die seit 1991/92 entstanden, werden ab 14. Juni immer am späten Sonntagabend gesendet, sind aber auch komplett in der ARD-Mediathek abrufbar.
Dieser Text erschien zuerst am 11.6.2020 in: Neues Deutschland