In der Vogelperspektive schwebt die Kamera über gewaltige, sich schier im Unendlichen verlierende Eismassen. Riesige Eisskulpturen mit bizarren Formen ziehen vorbei. Auf ihren blendenden Oberflächen haben sich abstrakte Strukturen gebildet. Schmelzendes Eis bewegt sich wie ein unmerklich fließender Teppich auf dem Meer. Dann wieder brechen ganze Eisberge mit einem gewaltigen Knarren und Krachen weg, tauchen unter und wieder auf, treiben im lauten Tosen des Wassers weiter. Dabei mischt sich harte, irritierende Metal-Musik in die reichhaltige Geräuschkulisse, um die eisige Schönheit der wortlosen Bilder zu stören und in einen spannungsvollen Kontrast zu überführen. Die Erhabenheit der Natur mit ihrer unwirklich erscheinenden, aber sehr gegenwärtigen Kraft ist nicht ohne Schrecken und Gewalt zu haben. Davon handelt Victor Kossakovskys höchst sinnlicher und bildgewaltiger Film „Aquarela“ auf sehr eigensinnige Weise.
Sein Konzentrat kommt mitten aus dem Wasser und will dieses rätselhafte Element in seiner stetigen Veränderung erfahrbar machen, um darin die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen zu spiegeln. Kossakovsky folgt dem Weg des Wassers und beobachtet in langen, konzentrierten Einstellungen seine Veränderungszustände. Auf dem sibirischen Baikalsee, wo das Tauwetter offensichtlich früher als sonst eingesetzt hat, erkundet er die fragile Grenze zwischen Eis und Wasser, Mensch und Natur. Autos und Menschen brechen ein. Dramatische, nüchtern registrierte Rettungsszenen spielen sich ab. In der Ferne, an Land, brennt ein Haus. Das enigmatische Bild erinnert an den Schluss von Andrei Tarkovskys letztem Film „Opfer“. Später begleiten wir ein Segelboot bei seiner Fahrt aufs offene, sturmgepeitschte Meer. Faszinierende Wellenberge wechseln sich ab mit der pulsierenden, nur von einem Gurgeln oder Blubbern unterbrochenen Stille unter Wasser.
Kossakovskys auch in seiner Gliederung ungewöhnlicher Film, der mit 96 Bildern pro Sekunde aufgenommen ist, nähert sich gerade in der überhöhten Echtheit und zugespitzten Erfahrbarkeit seiner Bilder immer wieder der Abstraktion. Dann wirkt das bläulich-dunkle „Innenleben“ der Wassermassen wie reine Malerei aus Licht und Schatten. Doch das Artifizielle ist nur ein genauer, insistierender Blick auf die Realität.
Die Verheerungen eines Hurrikan markieren schließlich den gewaltsamen Übertritt des Wassers auf das Land. Vom Sturmwind abgeknickte Palmen und Verkehrsschilder, verlassene Straßen in einer geisterhaften Stadt und ein überschwemmter Friedhof evozieren das Ende der Zivilisation. Doch dann zeigt sich im lichtbeschienenen Wassernebel der Sintflut schüchtern ein Regenbogen. Kurz darauf stürzt der Salto Ángel in Venezuela, der höchste freifallende Wasserfall der Welt, an einer mächtigen, steilen Felswand herunter, um sich schließlich in einen kleinen, sich durch die Landschaft schlängelnden Fluss zu ergießen. Die majestätische Natur wir in diesem großartigen Bild zur Vision und Suche nach Transzendenz. Victor Kossakovsky hat „Aquarela“ vielleicht auch deshalb seinem seelenverwandten Landsmann und Kollegen Alexander Sokurov gewidmet.