Am 7. Januar 2015 stürmten zwei Al-Qaida-Terroristen die geheimen Redaktionsräume des Satiremagazins Charlie Hebdo. Sie massakrierten den zufällig anwesenden Gast Michel Renaud, Franck Brinsolaro, den Leibwächter des Chefredakteurs, die beiden Kolumnisten Elsa Cayat und Bernard Maris, den Lektor Mustapha Ourrad, die vier Zeichner Cabu, Georges Wolinski, Philippe Honoré, Bernard Verlhac resp. Tignous sowie den Chefredakteur und Zeichner Stéphane Charbonnier alias Charb. Zuvor hatten die Attentäter den Hausmeister Frédéric Boisseau erschossen, bei ihrer Flucht wurde außerdem der Polizist Ahmed Merabet hingerichtet.
Wie viele Stimmen über das Ereignis seither aus dem medialen Apparat sprudeln, ist schwer zu sagen. Am wichtigsten und gleichermaßen verstörend sind die gezeichneten bzw. geschriebenen Dokumente der Überlebenden und Hinterbliebenen: Catherine Meurisses Traumaverarbeitung in der Graphic Novel „Die Leichtigkeit“; Maryse Wolinskis Erinnerungen an ihren Mann Georges Wolinski, „Schatz, ich geh zu Charlie!“; die Aufarbeitung „Der Fetzen“ des Journalisten Philippe Lançon, der den Anschlag mit zerstörtem Unterkiefer überlebte. Des weiteren Charbs zwei Tage vor seiner Ermordung beendeter Essay „Brief an die Heuchler“, eine wütende Streitschrift, die die diskursive Karriere des Islamophobie- zuungunsten des Rassismus-Begriffs nachzeichnet und sich nun wie ein posthumes Charlie Hebdo-Manifest zur Errettung der Meinungsfreiheit liest; und schließlich Luz‘ 2015 erschienener Comic „Katharsis“, in dem er das verzweifelte Weiterleben unter der Last der Erinnerungen schildert.
Luz (Rénald Luziers) rettete, dass er sich wegen seines Geburtstags zur Redaktionskonferenz verspätete. Von ihm stammt auch das „Alles ist vergeben“-Titelbild der ersten Ausgabe nach dem Attentat, heute vermutlich die berühmteste Karikatur in der Geschichte des Mediums. Im September 2015 trat er von seinem Posten als Interims-Chefredakteur zurück. Was das Blatt ihm und überhaupt für die gesamte politische Publizistik Frankreichs bedeutete, davon berichtet Luz in seiner soeben übersetzten, über 300 Seiten starken und in Frankreich bereits im Herbst 2018 veröffentlichten Graphic Novel „Wir waren Charlie“.
Es ist kein Blick zurück in Zorn, und die zu erwartende Trauer ist allenfalls Ausgangspunkt für Luz, seine ein knappes Vierteljahrhundert dauernde Arbeit in der Redaktion als ausgesprochen lustige Entwicklungs- und Episodengeschichte zu erzählen – die wohl letzte große Reportage eines Comicjournalisten, der sich heute nicht mehr anonym in der Öffentlichkeit bewegen, seine Arbeit nie wieder fortsetzen kann.
Alles beginnt mit einem Traum, zugleich eine tieftraurige Ouvertüre: Luz erklimmt – dargestellt mit weißen Konturen in schwarzer Negativ-Ästhetik, die Schabkarton-Zeichnungen ähnelt – mühsam eine Treppe, bis er eine Tür erreicht. Er tritt hindurch und auf der Folgeseite offenbart sich, nun im umgekehrten, strahlenden Schwarzweiß, das ehemals laute Redaktionsleben. Sämtliche „Charlies“ sitzen am Tisch, prüfen Texte, diskutieren Zeichnungen, allein Luz kann sich nicht artikulieren, seine Sprechblasen bleiben leer. Als die Gruppe zu einem Absacker aufbricht, blickt ihnen Luz, nun wieder im Negativ, durchs Fenster hinterher. Ein Albtraum, der in die farbige, vornehmlich blau aquarellierte Gegenwart überleitet, von der aus Luz für den Rest der Nacht mit viel Bier seine prägenden, dann wieder schwarzweißen Charlie-Erlebnisse abruft.
Man merkt rasch, dass es Luz darum geht, das Magazin von den Schmauchspuren der Geschichte nach 2015 zu befreien, den Nebel so weit zu lichten, bis wieder jenes Blatt erscheint, das noch nicht zu betrauern war. Das ist insofern politisch, als Luz‘ sukzessive Integration in die Redaktionsstruktur – angefangen hat er als staunendes 20jähriges Landei – mit der Berichterstattung über gesellschaftliche Ereignisse Frankreichs und im Rest der Welt verbunden war. Die bringt ihn als Comicreporter 1994 von den Banlieus bis ins kriegserschütterte Bosnien-Herzegowina während eines Waffenstillstands 1995, nicht selten gerät er dabei in gefährliche Situationen. Auf einer SM-Party 2014 oder beim Undercovereinsatz bei den Jung-Gaullisten während der Präsidentschaftswahl in Frankreich 1995 ist das Zeichnen weniger riskant: „Manchmal hat so eine Reportage fast nichts gekostet … Ein Fahrschein und schon begann das Abenteuer … Mit einem Metro-Ticket nahm man den Leser mit in unbekannte Gefilde.“
Natürlich ist das Buch auch ein Loblied auf das Handwerk des Zeichnens: Da ist der konzentrierte Cabu, die graue Eminenz, der fernsehbekannte Starzeichner, dem die Leute auf der Straße begeistert hinterherrufen – der Mentor, der Luz eher zufällig den Job verschafft und später einmal den konsternierten Kollegen mit rührender Bescheidenheit zeigt, wie man bei öffentlichen Veranstaltungen heimlich mit der Hand in der Jackentasche zeichnet. Da ist der immer eine Spur zu vulgäre und unnahbare Charb, dem sich Luz über die gemeinsame Liebe zu den „Simpsons“ nähert, und von dem sich lernen ließ, dass Dynamik mitunter die Gesetze der Proportionen eintütet.
Kurz vorm Zubettgehen sagt Luz: „Ich kenne keinen, der Regen so sehr mochte wie Cabu. Dabei ist das für einen Zeichner das schlimmste Wetter … Ja, genau darum geht’s, unter den unwahrscheinlichsten Bedingungen zeichnen zu können.“ Das ist der Geist Charlies, der auch diesen Comic beflügelt: nicht den Geschichtsbüchern zu überlassen, wie über Charlie Hebdo gedacht und gesprochen werden soll.
Dieser Text erschien zuerst am 16.10.2019 in: Junge Welt, Beilage Literatur zur Buchmesse Frankfurt am Main
Luz (Autor und Zeichner): „Wir waren Charlie“.
Aus dem Französischen von Vincent Julien Piot, Tobias Müller und Karola Bartsch. Reprodukt, Berlin 2019. 320 Seiten. 29 Euro