Wie lässt sich im Fluss der Zeit und der stetigen Veränderung Geschichte bewahren? Wie lässt sich das Vergangene für die Gegenwart vermitteln und fruchtbar machen? Und wie lässt sich aus der notwendigen historischen Distanz gegen alles Vergessen Zeugnis ablegen? Der Filmemacher Thomas Heise beantwortet diese Fragen im Bewusstsein des Nicht-Abschließbaren, Vorläufigen, das allem Fragmentarischen innewohnt. Im dichten dokumentarischen Gewebe seines tief beeindruckenden Films „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ verschränkt er deshalb sehr persönliche Zeugnisse aus seiner Familiengeschichte mit den politischen Zeitläuften des 20. Jahrhunderts. Eingeteilt in fünf Kapitel verknüpft Heise in der subjektiven Montage seines Filmes schriftliche Zeugnisse von Familienmitgliedern mit aktuellen Aufnahmen historischer und privater Schauplätze. Indem er die Dokumente sprechen lässt, sucht sich das Material in der Montage seinen eigenen Weg zum Zuschauer.
Die Traumata und politischen Verwerfungen der beiden Weltkriege bilden das Hauptmotiv von Heises Reflexion über Zeit und Geschichte. Eingeführt wird es durch einen „häuslichen Aufsatz“, den sein Großvater Wilhelm Heise im Jahre 1912 als Schüler geschrieben hat. Darin beschreibt er ausführlich die schrecklichen Wirkungen und die tierische Natur des Krieges, spricht von „Schlächterei“ und „Verheerungen auf geistigem Gebiet“. Trotzdem lässt er am Ende des Aufsatzes den Krieg als letztes Mittel zur Verteidigung des Vaterlandes gelten. Später, in der Weimarer Republik, wird Wilhelm Heise Lehrer und Kommunist. Er heiratet die aus einer jüdischen Familie in Wien stammende Bildhauerin Edith Hirschhorn. Sie bekommen zwei Kinder, Hans und Wolfgang, und erleiden unter den Nazis schließlich Berufsverbot und Lagerhaft.
Thomas Heise, der alle Textzeugnisse selbst aus dem Off liest, lässt manche Enden offen und knüpft stattdessen neue Erzählstränge. Dabei wechselt er immer wieder die Innenperspektive der Zeitzeugen, die er auf der Bildebene mit privaten Erinnerungsstücken und Dokumenten oder subjektiven Filmaufnahmen gegenwärtiger Orte assoziiert, unter denen verwilderte Landschaften, verfallene Ruinen und vor allem immer wieder Rangierbahnhöfe eine besondere Rolle spielen. Einmal blickt die Kamera minutenlang durch die hintere, von Regen beschlagene Scheibe einer Straßenbahn, die durch Wiener Stadtbezirke fährt, während in den vorgelesenen Briefen zarte Familienbande geknüpft werden. Später tauchen die Wiener Straßennamen zusammen mit den Namen jüdischer Familien auf den langen Deportationslisten auf, die Heise wie ein schier endloses Rollband zeigt, während die Briefe von Ediths Familienangehörigen Auskunft geben von der täglichen Not und Diskriminierung unter den Nazis und der Angst vor der drohenden Deportation.
Unter den grauen Regenschleiern und Schneeverwehungen hindurch folgt Thomas Heise den Spuren seiner Familie durch die politisch angespannte, unsichere Nachkriegszeit bis hinein in die deutsch-deutsche Teilung, die der spätere, 1955 geborene Filmemacher und Theaterregisseur im Osten als Sohn des Philosophieprofessors Wolfgang Heise und seiner Frau Rosemarie, einer Romanistin, erlebt. Die Repressionen und Schatten der Vergangenheit kehren hier unter dem Deckmantel ideologischen Fortschritts und sozialistischer Utopie zurück. Zu spüren bekommt das vor allem der Hochschullehrer Heise, zu dessen Studenten Wolf Biermann zählt und der im Kontakt mit führenden Intellektuellen, wie zum Beispiel Heiner Müller und Christa Wolf, ein kritisches Verhältnis zum Staat als Instrument der Herrschaft unterhält. „Anständig bleiben“, lautet seine Minimalforderung, die auch heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat.
Thomas Heise folgt den Widersprüchen in den Verschlingungen der Geschichte schließlich bis zum Rechtsradikalismus der Gegenwart, um ernüchtert einen scheinbar paradoxen Satz zu formulieren, der kein Resümee sein will, aber eine beunruhigende Erfahrung vermittelt: „Die Narbe schreit nach Wunden.“
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