Mit den bonbonbunten, melodramatischen Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar, denen gern und wiederholt vorgeworfen wird, sie seien kitschig, larmoyant, sentimental oder maniriert, ist es ein bisschen wie mit dem fragwürdigen britischen Brotaufstrich „Marmite“: Die einen können nicht genug davon bekommen, während die anderen schon beim Erklingen des Namens des Filmemachers angewidert die Nase zu rümpfen beginnen.
In Almodóvars neuestem Werk, „Leid und Herrlichkeit“, in dem der Regisseur erkennbar Autobiografisches verarbeitet, sehen wir zuerst Bilder von psychedelischen Farben, die ineinanderlaufen. Was kein schlecht gewählter Beginn ist für einen Film, in dem Erinnerung, Traumbilder, drogeninduzierte Halluzination und 60er- und 70er-Jahre-Nostalgie eine nicht unwichtige Rolle spielen.
Hernach wird uns ein regloser Mann unter Wasser gezeigt, in einem Hallenschwimmbad. Die Kamera fährt einer große Operationsnarbe entlang. Es handelt sich um den einst gefeierten und nun ausgebrannten und gealterten Filmregisseur Salvador Mallo (Antonio Banderas), der sich in einer Schaffenskrise befindet und unter Asthma, Schmerzattacken und Depressionen leidet. Der Glanz früherer Tage ist verschwunden. Geblieben ist ihm eine Art Midlife-Crisis und eine luxuriös ausgestattete Großstadtwohnung. Mit Alberto (Asier Etxeandia), seinem Freund und früheren Hauptdarsteller seiner Filme, mit dem er einst zerstritten war, lebt er melancholisch in den Tag hinein. Gemeinsam nehmen sie Drogen, Salvador entdeckt die schmerzlindernde Wirkung des Rauchens von Heroin, die ihn abgleiten lässt in das Reich der Flashbacks und des Traums.
In elegant mit der Gegenwartshandlung verknüpften Rückblenden erinnert sich der Regisseur an seine Kindheit und Jugend in einem Dorf in der spanischen Provinz der 60er Jahre, an seine Mutter (Penélope Cruz), mit der ihn eine innige Zuneigung verband, und das Erwachen des eigenen sexuellen Begehrens.
Wie schon in früheren Arbeiten des Filmemachers wird auch hier in den knallbunten Dekors geschwelgt, und auch die Kostüme sehen aus, als habe man sie nach der Opulenz ihrer Farben und der Exzentrik ihrer Muster ausgesucht: Lustvoll fährt die Kamera an Designermöbeln, Lampen, Vorhängen, Filmpostern, modernen Pop-Art-Gemälden, Obstschalen, Teppichen, Fototapeten und exklusiven Espressomaschinen entlang (angeblich handelt es sich dabei um Almodóvars eigene, private Möbel und Kunstgegenstände). Salvadors Lederjacke ist grün, sein Pullover knallrot. Und auch die anderen tragen stets blumengemusterte Kleider oder grellbunte Hemden.
So blicken wir oft auf akribisch arrangierte Tableaus und Bildhintergründe, die nicht etwa einer Ästhetikmarotte Almodovars geschuldet sind, sondern darauf verweisen, dass es ohne Formwillen keine Kunst gibt und ohne Kunst kein Leben, das diese Bezeichnung verdient.
Almodóvar, „der wie kein anderer dem Bild seines Landes seit den Achtzigern eine breite Spur des Schrillen, Queeren, bunt Begehrenden eingezogen hat“ (FAZ) und dessen Werke auch immer als Hommage ans ebenso farbenprächtige wie gefühlsintensive Technicolor-Kino der 50er und 60er Jahre erkennbar sind, hat einen Film über das unaufhaltsame Vergehen der Zeit und die Unausweichlichkeit des Alterns und des Todes gedreht, aber auch einen über Schmerz und Sucht (auch die Sucht nach dem Kino als Sehnsuchtsort und Ort der Erinnerung). Und natürlich einen über die Liebe, das Begehren und die Unauslöschlichkeit der Erinnerung an die Kindheit auf dem Dorf, in dem die Filme noch nicht in riesigen klimatisierten Multiplexkinos gezeigt, sondern abends unter freiem Himmel auf eine Hauswand projiziert wurden. „Im Kino meiner Kindheit riecht es immer nach Pisse und nach Jasmin und nach Sommerwind“, lautet ein zentraler Satz, der aus einem autobiografischen Prosatext der Hauptfigur Salvador stammt. Die Träume der Kindheit, die Eingang in die Kunst finden, auch ins Kino, sie bleiben uns.
Diese Kritik erschien zuerst am 26.07.2019 in: Neues Deutschland