Obwohl sich der deutschsprachige Comicmarkt in puncto Vielfalt seit einigen Jahren zu neuen Höhen aufschwingt, gilt das für Publikationen einer begleitenden Comictheorie nur bedingt. Der jährliche Ausstoß an Readern, Monografien, historischen Grundlagenwerken und analytischen Einführungen geht über den zweistelligen Bereich nicht hinaus. Jonas Engelmann, Literaturwissenschaftler, Kulturjournalist und Mitinhaber des Ventil Verlags, hat nun seine Dissertation über „Gesellschaftsbilder im Independent-Comic“ veröffentlicht, und – Achtung: kontrafaktische Spielerei! – selbst wenn die deutschsprachige Comicforschung so viele Adepten hervorbringen würde wie die Wirtschaftswissenschaften Kapitalismusapologeten, zählte Engelmanns Arbeit zum mit Abstand Besten, was Comictheorie zu leisten imstande ist.
Engelmanns wichtigster Stichwortgeber ist Ole Frahm. Dessen 2010 erschienenes Buch „Die Sprache der Comics“ (Philo Fine Arts) ist ebenfalls ein comictheoretischer Glücksfall. Beide Autoren sind sich einig in der Annahme, die Ankunft des Comics im Kulturbetrieb sei ein eher zweifelhafter Segen, weil die Adaption bürgerlicher Kunstbegriffe zur Beschreibung und Definition des Mediums seine strukturellen Eigenarten grundlegend verkenne. Die Forschung werde dominiert von einem teleologischen Geschichtsverständnis sowie einer Fixierung auf formale Erzählmethoden. Man stelle sich einmal vor, die kritische Analyse eines Films würde aus der Identifizierung des Einsatzes von Zooms und Reißschwenks und ihrer narrativen Verbindung bestehen – absurd.
Was bei bürgerlichen Kunstkategorien wie Avantgarde, Werk, Identität oder Original auf der Strecke bleibe, sei die „parodistische Ästhetik“ des Comics, die für Frahm wie Engelmann sein „Wesen“ auszeichnet. Weil der Comic prinzipiell mittels Unabgeschlossenheit und Wiederholung operiert – aufgrund seiner massenmedialen Herkunft, der Kluft zwischen den Zeichenebenen Bild und Text, der mit Bedeutung zu füllenden Lücke zwischen den Panels, den handlungsleitenden Figuren, die von Bild zu Bild stets nur die gleichen, niemals dieselben sind, der strukturellen Wiederholung im inhaltlichen Kontext der Panels, der Seite und des gesamten Albums etc. -, lasse er „die Sehnsucht nach Identität, einem Original oder der Wahrheit ins Leere laufen.“ „Comics sind (…) Parodien der Vorstellung eines Originals, in denen die Konstruiertheit sinnhafter Ordnungen sichtbar wird.“ Die Folge: „Eine spezifische Selbstreflexivität, in der Kämpfe um Deutungsmacht und Wahrheit ausgetragen werden.“ Ich möchte glatt behaupten, dass man mit solcherart politischer Relektüre von Comicästhetik und –geschichte am Tisch deutschsprachiger Comicforschung schnell ziemlich einsam dasitzt.
Penibel arbeitet sich Engelmann durch die Rezeptions- und Definitionsgeschichte des Comics und bietet zugleich eine ideale Einführung, die nicht mit Überraschungen geizt: Wer hätte hinter dem allseits als Comicfresser verschrieenen Psychiater und jüdischen Münchener Immigranten Fredric Wertham einen Vertreter der Kritischen Theorie erwartet, dessen bis heute als Zensurtraktat missverstandene Untersuchung „Seduction of the Innocent“ von 1954 weniger die Rettung des Abendlandes vor dem Comicschund, als die sich im Comic spiegelnden Deformationen von Gesellschaftsbildern im Blick hatte? Seine theoretischen Grundlagen und analytischen Zentralbegriffe „Wiederholung“ und „Werden“ entwickelt Engelmann zunächst exemplarisch anhand von Art Spiegelmans „In the Shadow of No Tower“, einer Erzählung über 9/11. Engelmanns Thesen lauten: Weil der Comic Wirklichkeit nur verfremdet darstellen kann, muss er Objektivität gar nicht erst beanspruchen, sondern kann sich gleich die Frage stellen, woher seine Bilder zur Darstellung der Wirklichkeit kommen, sowohl werk- und mediumsimmanent als auch diskursiv. Und: In den leeren Flächen, Panelzwischenräumen und seriellen Darstellungen verbirgt sich das politische Potential der Comics. Die Konstellation der Figuren und Zeichen zueinander materialisiert sich mit jedem Bild neu – Ausgangslage, um über das Verhältnis von Subjekt, Identität und Geschichte nachzudenken. Entsprechend ist das Weiß des Zwischenraums ein Ort, „der keine letztgültige Wahrheit für sich beanspruchen kann, sondern über ‚Wahrheit‘, ‚Geschichte‘ und ‚Stereotype‘ reflektiert.“ Auch wenn diese selbstreflexive Struktur Universalität beansprucht, sie kommt erst, räumt Engelmann ein, im Independent-Comic zum Einsatz.
Die Beweisführung gliedert sich in drei Themenblöcke: Rassismus, Krankheit (unterteilt in AIDS und Epilepsie) und Religion, eingeleitet vom kulturgeschichtlichen und historisch-soziopolitischen Forschungsstand. Die analysierten Comics dürften größtenteils als kanonisiert gelten: Hergés „Tim und Struppi“-Album „Tim im Kongo“ und die subversive Aneignung dieses Klassikers durch die französische OuBaPo-Gruppe und einige Künstler der südafrikanischen Comiczeitschrift „Bitterkomix“; Charles Burns‘ AIDS-Parabel und 50er Horrorcomic-Transformation „Black Hole“; Frederik Peeters‘ autobiografische Perspektive auf AIDS als Metapher, „Blaue Pillen“; David B.s Comic über Epilepsie als familiäre Krisenerzählung, „Die heilige Krankheit“; Julie Doucets formales Spiel mit der eigenen Epilepsie im „New Yorker Tagebuch“; außerdem Marjane Satrapis „Persepolis“, ihre oft als Autobiografie fehlgedeutete Geschichte über die wechselseitigen Projektionen auf den Iran und den Westen, sowie Joann Sfars „Klezmer“, eine Dekonstruktion antisemitischer Stereotypen.
Statt eines Fazits ein Appell: Sollte Ihr innerer Deutschlehrer ob einiger weniger Grammatikfehler oder der in wissenschaftliche Arbeiten leider unvermeidlichen Wiederholungen insbesondere den Rotstift sehen, anstatt sich von klugen Argumenten überzeugen zu lassen, suchen Sie sich im Netz eine Kommentarfunktion Ihrer Wahl. Die Verbliebenen belohnen sich mit einem neuen Standardwerk der Comictheorie.
Dieser Text erschien zuerst 2013 in: PONY Magazin #86
Jonas Engelmann: „Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic“.
Ventil Verlag. Mainz 2013. 336 Seiten. 24,90 Euro