Sie führe dieses Jahr nicht ins Sommercamp, sagt Leas beste Freundin am letzten Schultag überraschend. Eine glatte Lüge, wie Lea (Lisa Moell) sofort ahnt und bald herausfinden wird. „Irgendwie sind alle komisch geworden dieses Jahr“ meint sie dazu lapidar und verbringt die großen Ferien allein in der brandenburgischen Heimat, langweilt sich durch die Tage, unternimmt Ausflüge mit dem Fahrrad, besucht ihren Freund, den Aussteiger und Musiker Mark, isst Meloneneis mit ihm, während er rauchend und trinkend in der Badewanne auf seinem Hof abhängt. Von der Dorfbürgermeisterin angehalten und wegen eines überfahrenen Stoppschildes auf menschenleerer Straße ermahnt zu werden, ist da beinahe schon das packendste Erlebnis.
In ihrem gerade einmal 67 Minuten kurzen – und damit für eine Kinoauswertung grandios ungeeigneten – Debütfilm erzählt Joya Thome voller Gelassenheit von der Kindheit auf dem Land kurz vor der sonst so häufig zum Thema gemachten Schwelle zum Erwachsenwerden. Hier und da entspinnen sich für dramatische Spannungsbögen geeignete Plots. Doch dass Lea nicht in die Kartoffelbande aufgenommen wird, weil diese nur aus Jungs bestehen darf, ein Dorfbewohner ein Geheimnis in seinem Keller hütet und Mark von seinem Grundstück vertrieben werden soll, wird eher beiläufig erzählt oder in den mitreißendsten Momenten vom Drehbuch sanft ausgebremst. Alles in „Königin von Niendorf“ ist von einer außergewöhnlichen Normalität gekennzeichnet.
Das findet neben der dramaturgischen Unaufgeregtheit, der vielleicht als einzigem Schwachpunkt eine Vernachlässigung der Nebenfiguren attestiert werden kann, vor allem in den Bildern Lydia Richters seinen angenehm warmen Sommerniederschlag. So fährt die Kamera wiederholt an den Ereignissen vorbei, verpasst sie halb oder schaut durch Leas Augen aus der Ferne auf die Dinge. Viele Begebenheiten werden somit wohltuend zu Nebensächlichkeiten: Klassenkameradinnen, die am Straßenrand Macarena üben, Jungs, die ein altes Fass klauen, Mädchen, die sich nach dem Sport umziehen, ohne dass durch den Blick der Kamera die Veränderung der Körper betont und für die Erzählung genutzt wird. Oder Leas viel zu kleines Fahrrad, dass vom Erwachsenwerden genauso wie von der Armut in der Provinz erzählt, ohne dass es herausgestellt oder gar in Dialogen aufgegriffen werden müsste. Es ist schlicht die Perspektive der Kindheit, die gänzlich dem augenblicklichen Erleben geschuldet ist, das dann irgendwo oder auch nirgendwo hinführt. Das klassische Seitenverhältnis von 1,33:1 (Normalformat) verweigert sich zusätzlich häufig des objektiven Blickes und der weiten Landschaft, konzentriert sich stattdessen auf die Gesichter der Protagonist*innen, deren eingeschränktem Blick auf die Welt. „Königin von Niendorf“ zeigt ganz einfach unspektakuläre Impressionen eines Sommers und gerade damit (fast vergessene) kindliche Realität.
Mit einem vollkommen anderen Verständnis von Normalität stellt „Königin von Niendorf“ schon abweichendes Verhalten in Bezug auf die deutsche Kinderfilmlandschaft dar. Er verweigert sich mit Leichtigkeit den dort vorherrschenden pädagogisierenden oder reichlich verblödeten Extremen, indem er als Kinderfilm vor allem erst einmal ein Film mit Kindern ist. So ist Lea weder technikbegeistertes Jugend-forscht-Genie, noch abenteuerlustiges Influencervolltrottelblondchen auf dem Weg in den geordneten Konsumkontrollverlust, sondern einfach ein zehnjähriges Mädchen ohne große Ambitionen. Und die Jungs der Kartoffelbande zeichnen sich weniger durch unverwechselbare und urkomische Attribute aus, als durch ihre stinknormale und manchmal etwas schroffe Art. Auch rutschen die Eltern nicht an den Rand, in die Unschärfe oder ins Off der Bilder, weil sie selbst zum Schuhe zubinden zu blöd sind und den überdrehten Kindern das Feld überlassen müssen, sondern einfach aus dem Wissen um die Normalität, dass Eltern im Sommer schlicht nicht vorkommen.
„Königin von Niendorf“ hebelt auf diese Weise die Strategien einer tiefgreifenden Infantilisierung aus, bei denen die Kinder zu frühreifen Adoleszenten und die Eltern zu unmündigen Jugendlichen gemacht werden, die immer etwas wollen und in diesem Wollen gelenkt werden müssen. Der Film entzieht sich und seinen Figuren einer dauerhaften Anspruchshaltung, die nach Befriedigung verlangt und die der Langeweile als Windstille des Geistes, als absichtsloses Sein, Stromern und Zeit vertrödeln keinen Raum mehr zugesteht. Die ökonomisch unverwertbare Langeweile, die Freiheit nichts zu tun und keine Rechtfertigung liefern zu müssen machen das Kindsein aus. Es ist diese Zeit, in der ein Tag eine Ewigkeit dauert und die im Nutzlosen so viel Wertvolles birgt, die man als Erwachsener manchmal an einem Sonntag ohne die eigenen Kinder wieder herzustellen versucht.
Ein retromanischer, regressiver und letztlich lähmender Rückgriff kommt für Joya Thome aber ebenso wenig infrage wie eine Fetischisierung des kindlichen Aktivismus. Die hier anklingende Nostalgie ist im Film deshalb nicht bloße Rückbesinnung und Wünschen ins Gestern, sondern Ausdruck eines Wunsches nach Normalität – vor allem in Bezug auf die Darstellung der Kindheit im Film. Zu dieser Normalität gehören auch einige Mutproben, die Lea im Laufe des Filmes bestehen muss sowie ganz beiläufig rauchende und trinkende Erwachsene. Dass allein dies schon zu Schnappatmung bei einigen Eltern im Kino führt, zeigt deutlich, wie eng gesteckt das Regelwerk definiert, was einen Kinderfilm heute angeblich ausmachen soll und was gute Elternschaft bedeutet. Dass Lea Regeln durchaus kennt, aber auch weiß, wie und wann sie gebrochen werden können – das überfahrene Stoppschild zu Beginn des Filmes deutet es bereits an – gehört für sie selbstverständlich zum Erwachsenwerden dazu.
Mit der gleichen unaufdringlichen Selbstverständlichkeit erzählt „Königin von Niendorf“ von Homosexualität und vom sich wandelnden Geschlechterverhältnis. Während die Mutter das Essen auftischt und der Vater im Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzt, fährt Lea plötzlich doch noch der Kartoffelbande auf ihrem Rad voran und muss bei der kleinen Übersetzung ihres ollen Drahtesels ordentlich strampeln. Aber so machen das Königinnen nun einmal: sie treten in die Pedale und verändern die Welt. Denn Normalität ist Veränderung und Veränderung ist Normalität. Bleibt zu hoffen, dass der deutsche Kinderfilm in der Breite früher oder später davon ebenfalls profitiert.