Wer soll all die Frauen rächen? Die für gruselige Mannsbilder die Beine breit machen mussten. Die ihr Leben für neues Leben riskierten und dafür nicht gefeiert und befreit, sondern an Heim und Herd gefesselt und versklavt wurden. Die lieber kämpften, als zu dienen, und dafür ausgegrenzt wurden. Die um die Bürde ihres Auserwähltseins – als unmittelbare Trägerinnen der Reproduktion – beneidet und dafür unterjocht wurden.
Horkheimer und Adorno notierten nicht umsonst, man sähe es „Weibern und Juden … an, dass sie seit Tausenden von Jahren nicht geherrscht haben“. Wer aber soll die Beherrschten rächen? Zum Rächer der Juden, die bekanntlich nicht nur geknechtet, sondern vernichtet wurden, kürte Quentin Tarantino 2009 eine wild entschlossene Guerilla-Einheit. Sam Levinson, Sohn des Regisseurs Barry Levinson („Rain Man“, „Good Morning, Vietnam!“), kümmert sich nun um die Rächer der Frauen: eine Gruppe It-Girls.
Das wirkt zunächst wie ein Affront. Denn diese Spezies gilt zwar als sexy und extravagant, zeichnet sich im neoliberalen Zeitalter jedoch eher durch Konsum und soziale Herablassung aus als durch die progressive Attitüde einer Bohemienne oder reflektierten Feministin. Doch hat sich die It-Idee seit ihrer hohlsten Inkarnation durch Paris Hilton durchaus verändert. Heute denken wir bei dem Stichwort eher an Frauen wie Schauspielerin und Exmodel Cara Delevingne, durchaus talentiert, kratzbürstig, bisexuell und mit künstlerischer Note. Die britische Autorin Elinor Glyn definierte das gewisse Etwas, das It, bereits 1927 in „Cosmopolitan“ vielschichtig: „›It‹ can be a quality of the mind as well as a physical attraction.“
Beides vereinen die Protagonistinnen von Levinsons grellem Genremix. Lily ist intelligent, eloquent, kreativ und weckt mit ihrem Schmollmund bei gewissen Männern übelste Lolita-Phantasien. Die Transfrau Bex kleidet sich wie ein Superchick, tritt aber vehement für den Feminismus ein. Das Spiel mit sexuellen Reizen, das männliche Erwartungen bedient und karikiert, wird Frauen nicht erst heute als Vorwurf um die Ohren gehauen, doch vor allem in Kombination mit Aggression und Kampfeslust birgt es eine Möglichkeit, sich ansatzweise Subjektstatus zu verschaffen. Eine Attacke gegen „Schlampen“ ist daher immer antifeministisch.
Gemeinsam mit ihren Freundinnen Em und Sarah bilden Bex und Lily die heißeste Clique an der High School von – jetzt kommt’s – Salem, Massachusetts. Dort fand 1692 die schlimmste Hexenverfolgung Nordamerikas statt. Im heutigen Salem geht es freilich nicht mehr um Schadenzauber und Teufelspakt, sondern um Social Media und die Preisgabe intimer Geheimnisse. Zwei wichtige Zutaten sozialen Wahns allerdings, Prüderie und die Angst vor Statusverlust, haben sich aus dem alten Salem in die Gegenwart hinübergerettet. Natürlich jagt der die soziale Hackordnung wie ein Fleischerhund verteidigende Mob auch diesmal viele Frauen, die vier It-Girls eingeschlossen.
Dass Levinson die Hexenparallele wählt und Lily am Anfang zu den Aufnahmen einer typischen US-Vorstadtsiedlung verkünden lässt, die Stadt werde bald „it’s motherfucking mind“ verlieren, ist freilich wenig subtil. Doch wer es nicht deftig, hart und plakativ mag, sollte von „Assassination Nation“ ohnehin die Finger lassen. Alles hier ist drastisch, auch die Bilder. Split-Screens, Farben, flatterndes Licht und wilde Kameraperspektiven malträtieren das Auge bis zur Epilepsie. Dazu wirbelt Levinson Elemente aus Teenhorror und „The Purge“, Thriller, schwarzer Komödie, Sozialdrama und Western brachial durcheinander. Nicht zufällig erinnert die Art, wie sich die Freundinnen aneinander schmiegen, die Oberschenkel nackt, die Tops eng und arm an Material, die Brüste mehr als nur erahnbar, an Softpornos. „Assasination Nation“ setzt diese vom (fast schon klischeehaften) patriarchal-heterosexuellen Blick geforderte Jungmädchenerotik bewusst ein. Wie Kostümbildnerin Rachel Dainer-Best dem New Yorker Online-Modemagazin „Fashionista“ verriet, sollen die Designs beim Zuschauer zwei Fragen evozieren: „Wer schaut sich das an?“ Und: „Warum wollen diese Menschen genau das sehen? Ich will, dass die Leute begreifen, dass weibliche Körper nicht dazu da sind, angestarrt zu werden.“ Der geifernde Gaffer, der sich das Mädchen zu Willen machen will, weil er die Frau fürchtet, taucht im Film auch auf. Ihren Nachbarn stachelt Lily dabei durch Textnachrichten und aufreizende Bilder noch an.
Natürlich ist das Spiel mit der Teenie-Erotik zweischneidig: Während der eine Kinobesucher in bester Nachbarnmanier das Taschentuch zückt und die Hand zum Reißverschluss führt (schließlich will es die Schlampe nicht anders), erkennt der andere – und vermutlich auch die Kinobesucherin – die Message.
Noch deutlicher wird der schmale Grat, auf dem sich Levinson bewegt, bei den Gewaltorgien und Blutbädern. In der Tradition klassischer Horrorfilme, die als Thriller beginnen, lässt er sich allerdings viel Zeit damit: Zunächst verbreitet ein anonymer Hacker über die sozialen Medien Pornofotos des konservativen Bürgermeisters. Anschließend ereilt den Schulrektor eine ähnliche Schmutzkampagne. Irgendwann erwischt es die halbe Stadt und auch Lily. Als ihre Erotikbilder geleakt werden, schlägt das Patriarchat mit aller Wucht zu – ähnlich brachial wie in politisch aufrüttelnden Filmen a la „Oi! Warning“ oder „Boys Don’t Cry“, allerdings mit einem popkulturellen Trash-Appeal. In seinen schlimmsten Momenten gemahnt „Assassination Nation“ so für einige Millisekunden an den klassisch misogynen Horror, der sexuell aktive Damen mit dem Tode bestraft. Und es stellt sich die Frage: Wie viel Gewalt gegen Frauen und die LGBT-Community darf man zeigen, um Gewalt gegen Frauen und die LGBT-Community zu kritisieren? Doch Levinson ist kein Idiot. Er weiß genau, was er tut. Kurz bevor es unerträglich wird, zieht er die Notbremse. Mit viel schwarzem Humor und einem grandiosen Finale.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 11/2018