Eingangs des Films spricht der Evolutionsbiologe Richard Dawkins über Vernunft und Wahrheit, über Kreationismus und “offene” Säkularisierung. Auf die Komplexität des Lebens antwortet er mit dem Satz: „Wissenschaft ist die Poesie der Realität.“ Viele weitere Diskurse über den Zusammenhang von Ungleichheit und Bildung, Einwanderung und kulturelle Differenz, Kapitalismus und Sklaverei folgen. In Frederick Wisemans über dreistündigem Dokumentarfilm „Ex Libris: Die Public Library von New York“ bilden sie das theoretische Fundament für die Vielgestaltigkeit eines ebenso traditionsreichen wie modernen Lern- und Begegnungsorts. „Was ist eine Bibliothek?“, wird einmal gefragt. Ein Ort, wo Menschen lernen wollen, lautet die Antwort.
Wie das praktisch aussieht, zeigt der Film, ohne zu kommentieren, indem er ausführlich und geduldig beobachtet. Der hochbetagte Regisseur (Jahrgang 1930) und Direct Cinema- Pionier, der in seinem umfangreichen Werk immer wieder Institutionen und ihre Funktionsweisen porträtiert hat, ist für diese möglichst wenig intervenierende Methode bekannt. Er zeigt Lesesäle, Ausleihvorgänge und den telefonischen Benutzerservice; er blickt in Zeitungsarchive und Bildersammlungen und ist zu Gast in einigen der über neunzig Zweigstellen der 1911 eröffneten Public Library, die mit über 51 Millionen Medien zu den größten Bibliotheken der Welt zählt.
Was Wiseman dabei vor allem dokumentiert, ist das Bild der Bibliothek als kulturelles Zentrum, das gesellschaftliche Teilhabe und Integration ermöglicht. Das diesbezügliche Bildungsangebot umfasst Lesungen und Diskussionen, bei denen wir beispielsweise Elvis Costello und Patti Smith begegnen, Konzerte und Ausstellungen; aber auch (ähnlich unseren Volkshochschulen) Lesezirkel, Nachhilfeunterricht, Angebote für Behinderte, eine Jobbörse, Krabbelgruppen und Seniorentanz.
Nicht zuletzt beobachtet Wiseman interne Beratungen der Verwaltung, in denen es um Finanzierungsfragen und die Herausforderungen der Digitalisierung geht. Dabei hören wir vielen sehr eloquenten, engagierten Menschen mit multikulturellem Background zu. Die Bibliothek als Ort gelebter Demokratie und sozialer Integration: Frederick Wisemans komplexer Film veranschaulicht diese Utopie nachdrücklich.