Das Fremde kommt von weit her, aus den Tiefen des Alls. Es lebt, von einem Wissenschaftler-Ehepaar betreut, in einer Holzhütte im Wald. Die umgebende Lichtung mit dem plätschernden Bach, der grünen Wiese und den grasenden Schafen beschreibt einen locus amoenus. Was man von dem geheimnisvollen Wesen zunächst sieht, ist ein einzelner langer Tentakel, der sich aus dem nackten Schoß einer verzückten jungen Frau löst. Verónica (Simone Bucio) wird später über das vielarmige Alien, das zunächst nur in Andeutungen sichtbar ist, sagen, es sei „die primitive Seite von allem“ und „schenke nur Lust“: „Es ist das Schönste, was du in deinem Leben sehen wirst, vermutlich im ganzen Universum. Nichts wird mehr sein wie es war.“ Trotzdem ist Verónica nach dieser Begegnung verletzt und blutet aus einer Wunde an der Hüfte. Das mysteriöse Es im Zustand seiner reinen Triebnatur, gewährt offensichtlich nicht nur sexuelle Transgression und Ekstase, sondern es verwandelt die Erfahrung einer außerordentlichen Lust auch in einen unauslöschlichen Schmerz.
In Amat Escalantes preisgekröntem Film „The Untamed“ („La región salvaje“) arbeitet die menschliche Triebnatur gegen die Fesseln der Gesellschaft. Doch der tabuisierte Übertritt in die reine Lebendigkeit des Daseins birgt zugleich tödliche Gefahren. Die in parallelen Erzählsträngen entwickelte Geschichte stellt zunächst Verónicas verhängnisvolles Verlangen gegen die unerfüllte Lust eines unglücklichen jungen Paares: Während Alejandra (Ruth Ramos), Mutter zweier kleiner Kinder, unter der Dusche masturbiert, um ihr unbefriedigendes Sexualleben zu kompensieren, treibt es ihr Mann Ángel (Jesús Meza) heimlich mit seinem Schwager Fabián (Eden Villavicencio). Aus Angst vor Diskriminierung verleugnet Ángel seine sexuelle Orientierung, indem er sich selbst homophob gibt. Der zu Eifersucht und impulsiver Wut neigende Landvermesser ist aber auch Opfer einer dominanten mütterlichen Erziehung und leidet unter einem traumatischen Kindheitserlebnis: Seit sein Vater im Beisein des Jungen auf der Jagd einen Hirsch getötet hat, kann Ángel kein Fleisch mehr essen.
Körper und Fleisch sind in unterschiedlichen Ausprägungen die Signaturen von Amat Escalantes verstörend abgründigem Film. Unterlegt mit düsteren Drones, verbindet sich sein direkter, realistischer Stil diesmal mit phantastischen Elementen. Denn nach und nach werden sich die Figuren, geleitet von Neugier und ungestillter Sehnsucht, von Enttäuschung und Schmerz, mit dem vielgliedrigen Tentakel-Monster vereinigen. In der Natur entspricht dessen physisches Bild dem verschlungenen Wurzelwerk eines Baumes. Erfüllung und Tod liegen in Escalantes roher, kreatürlicher Sicht auf die menschliche Existenz nah beieinander. „Ich bin ein Tier“, schreit Ángel, als er nicht mehr anders kann. Einmal grölt eine besoffene, an einer Kneipentheke aufgereihte Männerhorde voller Inbrunst: „Das Leben ist nichts wert. Es fängt mit Weinen an und hört mit Weinen auf.“ Demgegenüber steht das friedliche, von weit her kommende Bild wild kopulierender Tiere. Der Krater, der sie umgibt, könnte von einem Meteoriten stammen.