Im Pariser Centre Pompidou füllt sich jede Woche ein leerer Raum mit einem Stuhlkreis, der Platz für ungewöhnliche Begegnungen schafft. In 72 Minuten kommt jede*r zu Wort: von der spanischen Austauschstudentin über eine peruanische Lehrerin bis zum irakischen Kriegsflüchtling. So unterschiedlich die verschiedenen Teilnehmer*innen in dem kleinen weißen Raum auch sind, so farbenfroh und stark ist der Inhalt, der diesen stillen Ort jede Woche neues Leben einhaucht.
Es wird geredet, zugehört und das am besten ohne über Politik zu sprechen. So offen der Raum auch für alle ist, zwei Regeln gibt es in diesem dokumentarischen Kammerspiel zu beachten: Erstens wird nur über unbeschwerte Dinge gesprochen; zweitens dürfen den Mund nur französische Sätze verlassen. Hier geht es um das Lernen der französischen Sprache. Auf den ersten Blick scheint das zumindest das Hauptanliegen der Gruppen zu sein. Sie sind auf der Suche nach einem erlebten und emotionalen Austausch. In dem kleinen Raum finden sich nur Fremde unterschiedlicher Nationen, Schichten und Generationen zusammen, doch teilen die Leidensgenossen ein gemeinsames Gefühl, das sie alle verbindet: das Fremdsein im Ausland.
Manche leben erst seit ein paar Wochen in Paris und andere bereits seit Jahrzehnten. Und dennoch fällt das Ankommen schwer. Denn feststeht, dass Migrant*innen nie richtig ankommen können, weil sie die innere Herkunft wie ein unsichtbares Band von ihrem temporären oder neuen Zuhause davon abhält. Ebenso erfolgen Stigmatisierungen, die es den Anwesenden erschweren, in Paris anzukommen. Alles ist anders, alles ist neu, alles ist schwierig.
Aber nicht bloß das. So vieles gibt es neu zu erlernen. Nicht nur die Sprache trennt Menschen voneinander. Wie sieht es mit unterschiedlichen Kulturen aus, mit Glaubensvorstellungen oder dem Frauen- und Männerbild, das in jeder Kultur anders vermittelt und gelebt wird? Viel wissen die zusammensitzenden Individuen nicht voneinander. Doch allseits bekannte Klischees wie ein Chinese isst Hunde und der Franzose backt das beste Brot der Welt, zaubern den Menschen ein Lächeln ins Gesicht, lässt sie laut auf ihre Schenkel klatschen.
Durch Vorurteile über die jeweiligen Nationalitäten glauben wir, die Anderen zu kennen, sie zu verstehen, voneinander zu wissen und scheitern an diesem Schubladendenken dennoch immer wieder. Es sind die kleinen feinen Unterschiede, das Denken übereinander, das uns trennt. Diese kollektiven Stereotypen wandern um die ganze Welt, sodass sie zwar Kulturkreise trennen, das Wissen darüber aber wieder verbindet. Denn schließlich sind Klischees nicht umsonst da, vrai? So zumindest findet das eine Protagonistin in „Atelier de Conversation“.
Der Regisseur Bernhard Braunstein ist vor Jahren nach Paris gezogen und schöpft wohl aus dieser Erfahrung die Idee, den Raum in Centre Pompidou mehr in den Mittelpunkt des schnelllebigen, anonymen Pariser Großstadtlebens zu stellen. Ein Raum als hoffnungsvolle Begegnungsstätte? Man sitzt und spricht miteinander auf Augenhöhe. Menschen, die normalerweise niemals miteinander in Berührung kommen, treten in Dialog, wobei vorsichtig soziale und kulturelle Grenzen aufgebrochen und Hass und Angst gegenüber anderer Nationalitäten überwunden werden.
„Atelier de Conversation“ könnte nicht aktueller sein. Einsamkeit, Fremdheit, sprachliche Barrieren, aber auch Identitätsfragen oder kulturelle Unterschiede werden mal auf witzige Art und Weise thematisiert und plötzlich laufen Tränen über die Gesichter der sich im Stuhlkreis Sitzenden. Die Emotionen sind authentisch, die Menschen kommen sich nah. Löblich, denkt man sich. Solch einen Begegnungsort sollte es in jedem Land geben. Vielleicht würde das Denken über Fremde dadurch besser werden. Bestimmt sogar.