Wenn der Herzchirurg Steven Murphy (Colin Farrell) nach einer Operation seine blutbefleckten Handschuhe in einen Müllbehälter legt und die Kamera einen auffällig langen Moment darauf verharrt, gewinnt das Alltägliche etwas merkwürdig Feierliches, fast Erhabenes. Zwischen Leben und Tod, Allzumenschlichem und Sakralem beginnt Yorgos Lanthimos seinen neuen Film „The Killing of a Sacred Deer“. Während aus dem Off der Anfang aus Franz Schuberts „Stabat Mater“ erklingt und das Bild des Gekreuzigten vor dem inneren Auge erscheint, arbeitet besagter Operateur am geöffneten Brustkorb mit dem schlagenden Herzen. Den begnadeten Händen des Spezialisten, die im Verlauf des Films mehrmals als besonders schön bezeichnet werden, ist das schwache, bedrohte Leben förmlich anvertraut. Ein Fehler kann tödlich sein und alles verändern. Ein Fehlverhalten kann das Bild der abgestreiften Handschuhe in ein Bild der Schuld verwandeln.
Der angesehene Kardiologe, der mit seiner Frau Anna (Nicole Kidman), einer Augenärztin, und den beiden Kindern Kim und Bob in einem ruhigen, gepflegten Vorort von Cincinnati lebt, hat einen solch gravierenden Fehler gemacht. Weil ein Patient unter seinen Händen gestorben ist, trifft sich Steven seit geraumer Zeit mit dessen 16-jährigem Sohn Martin (Barry Keoghan), einem ebenso sensiblen wie verhaltensauffälligen Teenager, der in seiner Kommunikation eine merkwürdig offene Direktheit pflegt. Fast scheint es, als sei Steven für Martin eine Art Ersatzvater. Jedoch bleibt der Zuschauer über ihre wahre Beziehung lange Zeit im Ungewissen. Als der Arzt seinen jugendlichen Schützling seiner Familie vorstellt, verwandelt sich dieser allmählich in einen gefährlichen Eindringling, der das geordnete System aus Wohlstand, guter Erziehung, Schönheit und gesellschaftlichen Privilegien massiv erschüttert. Denn als Steven nach einem Gegenbesuch bei Martin und seiner übergriffigen Mutter plötzlich auf Distanz geht, fordert der Gekränkte nach antikem Vorbild für den Tod seines Vaters ein Menschenopfer und belegt deshalb Stevens Familie mit einem schrecklichen Fluch.
Yorgos Lanthimos inszeniert diese Gegenwart des Irrationalen und Unerklärlichen aus einer subjektiven, leicht erhöhten Beobachterperspektive, von wo aus die Kamera wie eine unsichtbare, übersinnliche Instanz die Totalität von Räumen und wiederkehrenden, schier endlosen Fluren erfasst. Die Figuren bewegen sich darin wie Gefangene geschlossener Systeme, aus denen es kein Entrinnen gibt, ihrem vorherbestimmten Verhängnis entgegen. Mit diesem kühlen Determinismus, der den Figuren wenig Entwicklungsmöglichkeit sowohl auf der psychischen Ebene als auch im Hinblick auf den zentralen Konflikt lässt, knüpft der griechische Regisseur an seine früheren, nicht minder verstörenden Werke „Dogtooth“ und „The Lobster“ an. Doch trotz dieser prinzipiell fatalistischen Weltsicht oder gerade wegen ihr geht es Lanthimos um die Enthüllung der menschlichen Natur in einer Extremsituation. Das archaische, von bizarren Einfällen, irritierenden Dialogen und dissonanten Klangschüben dramatisierte Geschehen handelt zwar von unauslöschlicher Schuld, strafender Gerechtigkeit und der Rückkehr des Verdrängen in Gestalt des Unfassbaren; es lenkt den Blick des Zuschauers aber vor allem auf die Hilflosigkeit und Abgründe menschlicher Verhaltensweisen.
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „The Killing of a Sacred Deer“.