Zunächst ist da nur ein schmaler Türspalt, der die vereinzelten Schatten im undeutlichen Halbdunkel vom Licht der Öffentlichkeit trennt. Kurz darauf stürmt eine kleine Gruppe von Anti-Aids-Aktivisten die Bühne, bewirft den Redner der staatlichen Präventionsbehörde mit Kunstblut und legt ihm Handschellen an. Die spektakuläre Störaktion schafft Sichtbarkeit und rückt die gravierenden Anliegen einer marginalisierten Minderheit ins öffentliche Bewusstsein. Im wöchentlichen Plenum von Act Up Paris, wo die Regeln der demokratischen Mitbestimmung klar definiert sind, löst das rabiate Vorgehen aber auch kontroverse Reaktionen aus: Wie weit darf eine derart hergestellte Publizität gehen? Ab wann schadet man der eigenen Sache? Durch eine kunstvolle Montage parallelisiert Robin Campillo in seinem Film „120 BPM“ (120 battements par minute) Aktionen und Diskussionen und erzeugt damit zugleich eine Form filmischer Überhöhung.
Nur allmählich lösen sich einzelne Stimmen aus dem vielstimmigen Chor der radikalen Aktivisten, von denen viele HIV-positiv sind und unter ihrer Krankheit sowie der damit verbundenen gesellschaftlichen Stigmatisierung leiden. Campillo inszeniert die langen, intensiven Diskussionen, in denen sich Privates und Politisches durchdringen, in einem dynamischen, immer auch intimen dokumentarischen Stil. Ganz selbstverständlich ist dabei auch die Verwendung einer medizinisch-pharmazeutischen Terminologie, mit der die Aktivisten nicht zuletzt ihre Diskursfähigkeit in der Auseinandersetzung mit Pharmakonzernen, Medizinern und Politikern dokumentieren. Geschickt verzahnt der Film die ebenso dringliche wie polemische Aufklärungsarbeit dieser eingeschworenen Gemeinschaft zu Beginn der 1990er Jahre, ihre Forderungen nach Anerkennung und wirksamer Hilfe, mit berührenden Einzelschicksalen. Dabei werden auch die Konfliktlinien und Verdrängungsmechanismen innerhalb der Community thematisiert.
Act Up will die Krankheit sichtbar machen, denn die von ihr Betroffenen haben nur wenig Zeit, sind meistens jung und gehören überwiegend zu gesellschaftlichen Randgruppen: „120 BPM“ berührt gleich in mehrerer Hinsicht Vorurteile und Tabus und ist deshalb in manchen Passagen nur schwer auszuhalten. An der markanten Schnittstelle von Begehren und Lust, Liebe und Tod begegnen sich schließlich der aidskranke Sean (Nahuel Pérez-Biscayart) und das neue Gruppenmitglied Nathan (Arnaud Valois). Zwischen Gefühl und Verstand ist die unteilbare Verantwortung nicht immer vernünftig. In großartigen Szenen reiner Empfindung und übermächtiger Körperlichkeit vermittelt der Film immer wieder atmosphärisch dichte Momente schwebender Entgrenzung.
Im schmerzlichen Ungleichgewicht zwischen dem noch gesunden Nathan und dem todkranken Sean, die sich nicht zuletzt in den Erzählungen ihrer traurigen Geschichten einander annähern, findet der Film aber auch zu einer intensiven, bewegenden Darstellung des in Angst, Einsamkeit und körperlichen Schmerzen gefangenen Sterbenden. Robin Campillo spiegelt diese individuellen Tragödien wiederum in den symbolisch aufgeladenen Bildern von Demonstrationen und Kämpfen, deren leidgeprüfte Teilnehmer in einer Mischung aus Verzweiflung und Galgenhumor gegen Schweigen und Vergessen kämpfen.