Es gibt in Pixars „Ratatouille“ die berühmte Szene, in der der gefürchtete Restaurantkritiker Anton Ego skeptisch vom ihm dargebotenen Mahl kostet und mit dem ersten Biss schlagartig in seine Kindheit an Mutters Küchentisch zurückversetzt wird. Das schönste ästhetische Erlebnis, sagt uns das wohl, ist vor allem die Überwältigung bei der Suche nach jener Erfahrung des Glücks, die uns die größte Geborgenheit versprach, und da kann der Kritiker noch so viel mäkeln, er wird schon verstummen, wenn er auf etwas trifft, was dieses Glück am reinsten konserviert. Man kann das natürlich auch regressiv verstehen, als stoisches Dümpeln im flow der kindlichen Unschuld, als Widerwillen Neues und Anderes zu verstehen, als infantilen Wiederholungszwang, zu dessen Gunsten sogar die Kunst instrumentalisiert wird, weil sie das fragwürdige Versprechen, Essenz des Glücks zu sein, immer wieder bricht.
An diesem Widerspruch kommt der kanadische Zeichner und Autor Seth ins Spiel. Die Figuren in seinen Geschichten bewegen sich an der Schnittstelle von Konservatismus und Extravaganz. Schon deshalb sind sie leicht entzifferbare Chiffren ihres Schöpfers. Der sehnt wie sie eine Zeit herbei, in der die Moderne als Signum für Ordnung und sicherheitsstiftende (eben auch mentale) Serialität, eines zaghaften Fortschreitens zum Besseren, ob nun künstlerisch oder ideologisch, galt. Das ist natürlich pure Projektionsleistung, und deshalb steckt in Seths Figurenarsenal auch stets eine Melancholie, die zwar Veränderungen fürchtet und das Vergangene betrauert, der es noch mehr aber vor ihrer eigenen Erosion graust. In „Eigentlich ist das Leben schön“ liest sich das sehr manifest, wenn Seth als Comic-Figur einen unbekannten, fiktiven Cartoonisten der Zeitschrift New Yorker ausfindig zu machen versucht, vor allen Recherchebemühungen aber seinen Selbstzweifeln und Identitätskrisen das Primat einräumt und seine gelegentliche Abscheu vor Bettlern und Nonkonformisten nur schwer verbergen kann. Bevor ideologiekritisch losgepoltert wird: Diese Xenophobie ist gleichermaßen Teil der Selbstzweifel und rückt vor allem die kultivierte Nostalgie – das Faible für das golden age of comic, überhaupt die Glorifizierung vergangener Jahrzehnte – ins eben auch akut Neurotische. Seths Begeisterung gilt nicht den Außenseitern und Losertypen an sich, sondern den Exzentrikern, die die Nostalgie zur Tugend erhoben haben; um diese Ambivalenz weiß er selbst am besten.
Wimbledon Green ist ganz sicher kein Losertyp. Immerhin ist er, so verrät bereits der Untertitel, der größte Comicsammler der Welt. Und um das zu erreichen, braucht es schon das Kapital eines Großindustriellen. Viel mehr gibt es über ihn eigentlich nicht zu erfahren, denn Wimbledon Green ist zwar die Hauptfigur, aber nicht der narrative Mittelpunkt, genau genommen handelt es sich bei ihm nicht mal um einen runden Charakter: Wenn er auftritt, dann nur mit typisierenden Eigenschaften, irgendwo zwischen gierigem Jäger und unnahbarem Aristokrat, der beharrlich und eitel, aber stets würdevoll seiner Gegner aussticht. Die Geschichte ist ein Mosaik und bedient sich der Stilmittel des Dokumentarfilms: talking heads, ehrfürchtige Bewunderer wie erbitterte Konkurrenten, dominieren die aufs Minimum reduzierten Panels, von denen sich durchaus bis zu 30 auf einer Seite tummeln können, immer die Frage erörternd, wie dieser Green bloß an seine Position gelangen konnte. Klar ist: Der Mann ist ein Unikum. „Er erkannte das Erscheinungsjahr an der Platzierung der Heftklammern“, sagt zu Beginn ein konsternierter Händler.
Es geht hier aber weniger um eine Biographie, auch nicht einzig um eine Hommage. „Wimbledon Green“ ist auf den ersten Blick Oral History, die Apotheose einer vergangenen wie fiktiven Comickultur. Es gibt Bilder der Glanzstücke aus Greens Sammlung, Ausschnitte seiner Lieblingscomics und der reduziert-cartooneske Stil (für den sich der Autor unnötigerweise im Vorwort entschuldigt) scheint mittels seiner Flüchtigkeit mit aller Mühe einer vom Vergessen bedrohten Epoche nachkommen zu wollen, bevor ihre Artefakte unwiederbringlich verloren sind. Die furiose, augenzwinkernd und überspitzt für die Sammlerszene variierte Verfolgungsjagd im Mittelteil, in der in bester Superheldenmanier einige Sammler inklusive Green zur Jagd auf ein besonders rares Heft ansetzen, geht dann jedoch über die Hommage an den dichotomen Kampf zwischen Helden und Antagonisten hinaus. Denn unschwer zu erkennen stilisiert sich Seth selbst in Gestalt des Jonah zu Greens ärgstem, vor Verbrechen nicht zurückschreckendem Widersacher. Eitelkeit, Selbstmitleid, Kulturpessimismus, Narzissmus, Exzentrik, Egozentrik, Bigotterie, allesamt Eigenschaften, derer sich der Seth aus „Eigentlich ist das Leben schön“ immer wieder geißelt, die auch schließlich dafür verantwortlich sein werden, dass Jonah von Green das Handwerk gelegt wird. Wenn also Green im Epilog sinnierend durch die nächtlichen Straßen flaniert (und wir von den talking heads zuvor erfuhren, dass er von einem Tag auf den nächsten verschwunden war), über den Tod seiner Mutter nachdenkt (und wir zuvor im Vorwort erfuhren, dass der Autor während der Entstehung des Werks den Verfall seiner demenzerkrankten Mutter miterleben musste) und dadurch abschließend doch noch mit biographischen Details ausgestattet wird, dann ist das Zepter des vom Selbsthass zerfressenen Egozentrikers an den Melancholiker weitergereicht worden, dessen Sammelmanie urplötzlich wiederum etwas ungemein Trauriges besitzt: das Wissen darum, dass kein Artefakt der Welt das Glück konservieren kann und dass die Suche danach eine unendliche bleiben muss. Sollte Seth vielleicht also immer dieselbe Geschichte erzählen – seine eigene -, dann tut er das beeindruckend variantenreich.
Seth (Text und Zeichnungen): Wimbledon Green. Der größte Comicsammler in der Welt.
Aus dem amerikanischen Englisch von Kai Wilksen und Uli Pröfrock. Edition 52, Wuppertal 2009. 128 Seiten. 25 Euro