Mit dem Bedauern, nicht mehr zu erfahren, wie es nach seinem Tod weitergehen wird mit „einer ständig sich verändernden Welt“, beendete im Jahre 1980 der große spanische Filmregisseur Luis Buñuel seine wunderbar eindrückliche Autobiographie „Mein letzter Seufzer“. Geschrieben hatte der damals Achtzigjährige diese zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor Jean-Claude Carrière auf der Grundlage ausführlicher Gespräche. Dreißig Jahre später führt nun der ebenso viele Jahre jüngere französische Schriftsteller (Jahrgang 1931) in seinem Erinnerungsbuch „Buñuels Erwachen“ („Le réveil de Buñuel, 2011) diese Konversation fort, um die Neugier des 1983 verstorbenen Surrealisten zu stillen.
Dessen Liebe zum Irrationalen erwidernd, bedient sich Carrière dafür einer ebenso traditionsreichen wie phantasievollen Literaturgattung: Dem sogenannten Totengespräch, in dem sich Erinnerung und Imagination, persönliches Zeugnis und Erfindung unablässig mischen. Die Wehmut über den verlorenen Freund und lebensentscheidenden Arbeitspartner, der Wunsch, Erlebtes zu bewahren und den Tod im Schreiben auf Distanz zu halten, finden darin einen Resonanzraum. Vor allem aber beglaubigt und erweitert Carrières geistreiches Buch noch einmal das lebendige Portrait Buñuels.
Für die gemeinsame Arbeit an der „endgültigen Fassung“ dieser Biographie inszeniert Carrière eine unmögliche Begegnung: Er schleicht sich an einem Frühlingsabend heimlich in Buñuels Gruft auf dem Pariser Friedhof Montparnasse; er öffnet den Sarg und trifft seinen Freund in einem merkwürdigen Zwischenzustand „nicht mehr am Leben, aber auch nicht ganz tot“. Auf dieses erste „Erwachen“ Buñuels folgen weitere „kleine Séancen“, in denen sich die beiden altersweisen Künstler illusionslos und fast schon mit einer Stimme über die politischen Zeitläufte der vergangenen Jahre, über Kriege und die menschliche Lust an der Zerstörung, über Fortschritt und Technik, Wissenschaft und Kunst, Religion, Glaube und Atheismus austauschen. Angesichts der ungebremsten Ausbeutung und Zerstörung der Erde wird der respektlose Skeptiker und lustvolle Kulturkritiker Buñuel, der immer wieder gegen den Lärm der Wirklichkeit opponiert und das Unerklärliche dem Verstehen vorzieht, eher unfreiwillig zum „Propheten der Leere“, der „das Ende von allem“ verkündet.
Jean-Claude Carrière, selbst ein brillanter Denker und Erzähler, mischt Buñuels pessimistische Weltsicht und spöttisch formulierten Einsichten mit feinem, (selbst)ironischem Humor und einem „apokalyptischen“ Lachen. Dabei verbindet er die oft katastrophischen Tagesaktualitäten immer wieder mit Ausflügen in die (gemeinsame) Vergangenheit, die 1963 mit „Tagebuch einer Kammerzofe“ beginnt und sechs Filme umfasst. Noch einmal berichtet er von Luis Buñuels Begegnungen mit Freunden und künstlerischen Weggefährten, von ihrer gemeinsamen Arbeit beim Drehbuchschreiben in ritualisierten „Improvisationssitzungen“, von Buñuels Lust am Schabernack und der Täuschung, seiner „Leidenschaft fürs Träumen“, seiner „sporadischen Sehnsucht nach Wildheit“, seinem antibürgerlichen Wesen und seiner Distanz zum eigenen Werk.
Über all diesen Themen und Anekdoten kreist Carrières Alterswerk aber vor allem und immer wieder um die Frage nach dem Tod, die ihre Spannung gerade aus der Dialektik der fiktiven beziehungsweise unwirklichen Begegnung bezieht. In einer doppelbödigen Selbsttäuschung huldigt der Schriftsteller der Illusion der Literatur sowie dem Tod als zwar unergründlichem, aber nichtsdestotrotz wirklichem Sinnstifter des Lebens. Und so lässt er seinen verstorbenen Freund schließlich resümieren, was er vermutlich selbst denkt: „Es ist der Tod, dem wir alles verdanken. Alles, was wir sind, alles, was wir getan, begehrt, geliebt, kennengelernt, erlebt haben. Unser ganzes Leben. Alles. (…) Denn wir können uns nicht als unwandelbar Lebende vorstellen.“
Jean-Claude Carrière: „Buñuels Erwachen“.
Aus dem Französischen von Uta Orluc unter Mitwirkung von Heribert Becker. Alexander Verlag, Berlin 2017. 296 Seiten. 22,90 Euro