Aus der Romantik – einer Strömung, die der erste „Blade Runner“ nicht aufhört, zu zitieren – leitet Walter Benjamin ein Verständnis von Kunstkritik ab, welches nicht auf Beurteilung eines Werkes, sondern auf dessen Verhältnis zur Gesamtheit der Kunst abzielt. Nun, mir ist Walter Benjamin nicht immer geheuer, doch habe ich mit diesem Verständnis immer zu schreiben versucht, weil ich mir darin ein ungeheures Potential erhofft habe, mit den Ungeheuern, welche uns die Kunst erschaffen hat, in einen Dialog zu treten. Was die folgende Kritik zu „Blade Runner 2049“ betrifft, so werde ich etwas zurückhaltender vorgehen und diesen vor allem im Verhältnis zu seinem Vorgänger betrachten, um darin jenes Allgemeinere zu umkreisen, das sich Benjamin von solcher Kritik erhofft. Das Interessante am Verhältnis der beiden Filme liegt darin, dass der neue „Blade Runner“ weniger Fortsetzung ist, sondern mit seinem Vorgänger umgeht wie mit einem Zeugen in einem Kriminalfall, der immer wieder befragt wird. Es sind nicht konkrete Handlungsstränge, welche die Filme zusammenhalten, sondern viel mehr Formen des Dialogs, in denen eine fiktive Vergangenheit rekonstruiert wird.
Von den Spannungsbögen des Films wird hier nicht wesentlich mehr gespoilert, als es die Trailer bereits getan haben, wenn ein kurzer Wortwechsel zwischen den Figuren Goslings und Fords zitiert wird: „Is it real?“ erkundigt sich der Blade Runner K. nach dem Hund von Rick Deckard, der wie alle Tiere in der von Philip K. Dick erdachten Zukunft unter Künstlichkeitsverdacht steht. Worauf Deckard erwidert: „Ask him.“ Dieser Dialog lässt sich als eine Binnenerzählung verstehen, in welcher sich der Grundkonflikt spiegelt, aus dem der Film gebaut ist. Es handelt sich bei dem Wortwechsel um ein Zitat einer in „Blade Runner 2049“ vielfach aufgerufenen Szene des ersten Films, dort mit einer Eule statt einem Hund als Referenz: „Is it artificial?“ fragt Deckard und Rachel antwortet: „Of course it is.“ Schon hier werden die Worte zum Spiegelkabinett: Replikantenjäger und Replikantin sprechen über die Künstlichkeit eines Tieres, wobei die Replikantin noch nicht weiß, dass sie eine ist; und je nach Schnittfassung gilt für den Replikantenjäger dasselbe. Geschichte und Interpretationen der Einhornszene (ein Einhorn ist eigentlich ungeheuerlich künstlich, oder?) sind im Vorfeld von „Blade Runner 2049“ wieder diskutiert worden; man erwartete vom neuen Film eine Art Stellungnahme zu der Problematik.
Es waren die verschiedenen Cuts, die die Unsicherheiten über den Status Rick Deckards getragen haben (in der Kritik hat man auf die Ironie hingewiesen, dass ein Film, der über die Manipulation von Erinnerungen handelt, selbst fortwährend manipuliert wird). Wird die Frage – echt oder nicht? – also im Schneideraum beantwortet? Entstanden ist sie jedenfalls schon früher im Produktionsprozess. Wir kennen die Erzählung vom Streit zwischen Harrison Ford und Ridley Scott am Set des ersten Teils über die Frage, ob Rick Deckard selbst das sei, was er jage; doch dies ist nur eine Seite des Komplexes.
Im Äquivalent der aufgerufenen Szene in Philip K. Dicks Romanvorlage – Do Androids Dream of Electric Sheep? – insistiert Rachel auf die Echtheit der Eule, was ihr Deckard nicht glauben will, weil er Eulen ausgestorben zu wissen meint. Dies hat Hampton Fancher im Drehbuch des ersten „Blade Runner“ übernommen und die Szene wurde für den Film entsprechend mit der Dialogzeile „Of course not“ gedreht – und erst im Nachhinein nachsynchronisiert, um dem Zuschauer die Kunstfertigkeit der Replikantenmacher zu demonstrieren anstatt Tyrells Sammlerpassion (nachzulesen bei Paul M. Sammon, „Future Noir“). Wir hören also „of course it is“, während Rachels Lippen „of course not“ sagen – wobei dies, wie ich vermute, im Final Cut korrigiert worden ist. Was in „Blade Runner“ real ist und was künstlich, stand schon in dessen Produktion immer zur Debatte und wurde fortwährend angeglichen.
Davon ausgehend hat Hampton Fancher ein Drehbuch für den Nachfolger geschrieben, das die Frage der Künstlichkeit als eine offene begreift und mit ihr in einem ersten Filmteil wie in einer kriminologischen Untersuchung verfährt – und dann, darauf aufbauend, uns in einem zweiten Teil von einem Real-werden erzählt, welches nicht durch einen festgestellten Status erlangt wird, sondern durch die individuelle Positionierung zu der Frage und die schließliche Emanzipation von ihr. Diese Makrostruktur spiegelt sich im zitierten Wortwechsel (die Narratologie spricht von „mise en abyme“): „Ask him“ ist natürlich der Witz eines alten Grantlers, weil der Hund nicht Stellung nehmen wird; doch ist es ein Witz mit Beziehung zum Unbewussten des Films: Er wendet das Gespräch von dem durch die Echtheitsfrage im Raum stehenden Gerichtsurteil über den Status eines Dritten ab, indem er auffordert, diesen Dritten selbst anzurufen.
Denis Villeneuve und Roger Deakins setzen diese Erzählung im wörtlichen Sinne in vielschichtige Bilder, insofern sie eine Szene des ersten Teils, in der ein Foto seziert wird (ihrerseits ein Zitat aus Antonionis „Blow Up“), in den Exzess treiben: Überall finden wir in „Blade Runner 2049“ Bild in Bild in Bild, von den kriminologischen Analyseinstrumenten bis zu einem erotischen Intermezzo, welches wir in Spike Jonzes „Her“ schon gehört, aber noch nicht gesehen haben. Diese zahlreichen visuellen Ebenen in der Bildsprache des Films provozieren unter anderem Fragen nach ihrer Künstlichkeit – als Handlungsträger bewegen sie sich aber in einem anderen Register: Der Film lenkt unseren Blick weg von der Frage, ob jemand besonders ist, zu der Frage, wie es sein Handeln beeinflusst hat, als ihm gesagt wurde, er sei besonders. Denn aus den verschiedenen Interessen seiner Figuren entwirft er eine Maschinerie aus Manipulation, in die er seine Hauptfigur K. wirft. In einem ersten Teil (der in Grundzügen an den König Ödipus erinnert) beginnt K. diese Maschinerie zu erforschen; in einem zweiten Teil, mit dem ich so nicht gerechnet hätte, findet er allmählich zu seiner politischen Rolle in ihr (diese Gliederung, die den Film vor und nach unsere Begegnung mit einer Erinnerungskonstrukteurin aufteilt, ist als Vorschlag zu verstehen). Dabei ist zu betonen, dass der Film zwar ein komplexes politisches Gefüge entwirft, in seiner narrativen Gestalt aber sich ganz und gar dem Weg des einzelnen Individuums verschreibt – auch wenn er große Revolutionen andeutet, interessiert ihn eigentlich die Emanzipation seiner Hauptfigur. Problematisch wird dies gegen Ende, wo etwas als Parallelstellung zum ersten Teil inszeniert wird, in einem wesentlichen Aspekt aber einen Gegensatz darstellt: Wo Roy Batty als Replikant, dessen Zeit abgelaufen ist, gegen den Skandal seines Endes wütet – sehen wir im Nachfolger eine Art Märtyrer in Akzeptanz seines Todes.
Der Score von Hans Zimmer und Benjamin Wallfisch will nichts als die Wirkung und schlägt immer dort, wo auch die Bilder schlagen sollen; damit hat er seine Momente besonders während der Landschafts- und Städteaufnahmen; und jagt im Showdown Gänsehaut über den Rücken. Zuvor hatte Jóhann Jóhannsson am Score gearbeitet und wurde fallen gelassen, weil er sich scheinbar von Vangelis zu weit entfernt hatte – sein Beitrag wäre vielleicht mutiger und ästhetisch interessanter gewesen.
Wie die Musik sind die Bildkompositionen überwältigend und zugleich detailreich; anders als die Musik entwickeln sie gemeinsam mit dem Drehbuch eine Sprache, die, wie ich versucht habe zu skizzieren, über die Überwältigung hinausreicht; und ich habe mich angesichts der Langsamkeit des nie langweiligen Films gefragt, ob ein Film dort, wo er erzählt, eigentlich nicht immersiv ist und nicht spektakulär. Es würde zahlreiche enttäuschte und erboste Besucherstimmen erklären, von denen ich in den social media gelesen habe und die etwas anderes erwartet zu haben scheinen.
Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu „Blade Runner 2049“.