In einem sehr treffenden Artikel beklagte Rajko Burchard, dass der Filmvorspann im Gegenwartskino eine ausgestorbene Kunst sei. Das stimmt natürlich – größtenteils. Ein Gegenbeispiel bietet „La noche del virgén“. Hier sehen wir zunächst in einem winzig kleinen Fenster, mittig auf der Leinwand, eine Fernsehsendung, in der eine Moderatorin und ein Moderator, der eine Dracula-mäßige Kutte trägt, uns auf einen Jahreswechsel einstimmen sollen und zwar den von 2015 auf 2016. Wie vieles später in diesem Film scheinen die beiden und ihre Sendung irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein. Weder das 4:3-Bildformat, die Artefakte, die es durchflimmern, noch die ganze Aufmachung scheinen sonderlich viel mit der zweiten Hälfte der 2010er zu tun zu haben.
Während die beiden, mäßig komisch, aber sehr sonderbar, über ihre Schwangerschaft, von der sie nichts weiß, darüber, dass im Jahr, das kommt, doch bitte weder David Bowie noch Prince noch George Michael sterben müssen (oder wenn doch einer von ihnen, dann nur letzterer), über die Religiosität von Festen (Weihnachten ist doch wohl ein religiöses Fest, schließlich wurde da unser Herr, Jesus Christus, geboren) und über die Migranten, die unten vor dem Tor gefälschte Fußballtrikots verkaufen, wird ihr kleines Fenster immer größer, bis es schließlich die gesamte Scope-Leinwand ausfüllt. Die Fernsehsendung wird also nach und nach zu dem Film, den wir sehen, nur um dann wieder aus ihm ausgelagert zu werden, in den Hintergrund des Geschehens in seiner ersten Szene, die in einem Club spielt, in dem Menschen ins neue Jahr hinein feiern und tanzen.
Hier lernen wir auch unseren Protagonisten kennen, der Nico heißt (Javier Bódalo) und die Jungfrau aus dem Titel ist (der spanische Originaltitel, der übrigens leinwandfüllend, in sehr ansprechend gestalteten Lettern vor rotem Hintergrund eingeblendet wird, was wiederum sehr schön ist, verrät übrigens, anders als seine deutschen oder englischen Übersetzungen, bereits, dass es sich um eine männliche Jungfrau handelt). Nico ist auf der Suche nach einer Frau, tanzt dann zunächst auch mit einer, die jung und attraktiv, aber auch so breit ist, dass die beiderseitige Annäherung abrupt damit endet, dass sie auf die Tanzfläche kotzt. Schließlich geht er, der mit seinem schiefen Blick und seinem sonderbaren Gebiss nicht eben als Schönheit zu bezeichnen ist, nun doch mit einer Frau mit, die aber nun bedeutend älter ist als er.
Als sie in ihrer Wohnung ankommen, wird es dann schnell so weird, wie es schon der Vorspann vermuten ließ, auch wenn uns dieser sicherlich nicht vollends auf die geballte Sonderbarkeit vorbereiten konnte, die uns erwartet – ich glaube, nichts könnte das. In ihrer Wohnung also gibt sie ihm zunächst die Anweisung, nicht auf die Kakerlaken zu treten, die hier überall über den Boden flitzen, das bringe nämlich Pech. Dass er dann doch auf eine tritt, der Film zeigt uns die zertretene Kakerlake, die er sich nun von seinem Schuh abpult und in seine Hosentasche steckt, im Close-Up, ist wohl der Grund für das, was ihm im weiteren Film widerfahren wird, wenn es denn dafür irgendeines Grundes bedarf.
Jedenfalls erzählt sie in ihrer einmalig versifften Wohnung von mythischen Kriegerinnen, hat eine buddhistische Statue rumzustehen und heißt denn auch, passend zu all dem, Medea (Miriam Martín). Er lügt darüber, mit wie vielen Frauen er Sex hatte (drei und dazu noch einige Huren, deren Zahl variiert). Medea und wir wissen natürlich, dass er noch Jungfrau ist. Über WhatsApp unterhält er sich mit einem Kumpel über das bevorstehende Glück, wird von diesem in mit sexuellen Kraftausdrücken gespickter Sprache dazu angefeuert, der Oma mal zu zeigen, wo der Hammer hängt – und Fotos zum Beweis zu machen. Zunächst holt sie ihm dann bald einen runter, hält aber Inne, ehe er fertig ist. Er beendet dann, was sie angefangen hat, zunächst an einem ihrer Slips riechend, der offenbar so stinkt, dass er es nach dem zweiten Versuch aufgibt. Als Vorlage verwendet er übrigens ein altes Fotoalbum von ihr. Der Schnitt, der nicht nur hier ziemlich toll ist, zeigt in immer schnellerem Wechsel, das sich zu einem Stakkato steigert, sein Gesicht, seinen Schwanz in seiner Hand und die sonderbar aufreizenden Fotos in dem Album. Schließlich kommt er. Und wie! Sein – übrigens recht kleiner – Schwanz wird regelrecht zum Feuerwehrschlauch, aus dem es spritzt und schäumt, dass es nur so eine Art hat.
Es kommt bald ihr Freund hinzu, der von draußen, aus einem Außen, das es in diesem Film eigentlich längst nicht mehr zu geben scheint, gegen die von ihr sorgfältigst verriegelte Tür hämmert und brüllt, droht und flucht, was das Zeug hält. Er heißt übrigens Araña (spanisch für „Spinne“, Víctor Amilibia). Wer lernen möchte, auf Spanisch zu fluchen, dem sei die Originalversion von „La noche del virgén“ ans Herz gelegt, in der wohl, mehr als einmal, jedes nur erdenkliche Schimpfwort vorkommt, das diese Sprache zumindest im iberischen Raum zu bieten hat. Daran hat dann eben Araña hinter der Tür den größten, wenn auch sicherlich nicht den einzigen Anteil. Das I-Phone von Nico, übrigens ein auch zum Zeitpunkt der Handlung schon ziemlich veraltetes Modell, mit dem er die Polizei rufen will, lässt Medea, die von dieser Idee nichts hält, dann verschwinden – in ihrer Möse.
Bei zwei Fluchtversuchen aus der Wohnung hängt unsere tapfere, im Verlauf des Films mehr und mehr geschundene Jungfrau aus dem Fenster, wo ihr in zwei Szenen jeweils zwei Männer nicht helfen wollen. Das erste Männer-Paar erscheint in einem Fenster über ihm, zunächst ein Kopf, der stöhnt und sich rhythmisch vor und zurück bewegt, dann hört das Stöhnen und die Bewegung auf und neben dem Kopf erscheint ein zweiter, sie beschimpfen ihn nicht nur ziemlich wüst, sondern werfen ihm schließlich auch ein benutztes und gut gefülltes Kondom ins Gesicht. Der Abspann, in dem alle Figuren noch einmal zu sehen sind, und ihre Rollen- und Darstellernamen eingeblendet werden, stellt sie uns übrigens als aktiver und passiver Sodomit vor. Ob das nun homophob oder einfach nur geschmacklos ist, spielt im Kontext dieses Films kaum eine Rolle. Denn Tabubruch und Geschmacklosigkeit dienen hier nicht, wie bei, sagen wir, Rolf Olsen, Paul Verhoeven oder in „You Don’t Mess with the Zohan“ (Denis Dugan, USA 2008) dazu, unter dem Teppich hervorzuholen, was der gute Geschmack und das, was heute political corectness genannt wird, lieber gründlich unter ihn gekehrt wissen, sondern sind reiner Selbstzweck.
Das zweite Männerpaar ist dann nicht über, sondern unter ihm, zwei Penner auf der Straße, die sich zunächst einfach über ihn lustig machen, indem sie vorgeben, mit einem schon wieder aus der Zeit gefallenen Telefon, dessen Kabel ins Nichts läuft, die Polizei zu rufen, dann aber auch dazu übergehen, ihn mit Kraftausdrücken zu traktieren. Man würde den Film wohl zu ernst nehmen, wenn man fragen würde, ob Schwule und sozial Benachteiligte einfach so sind, es geht eben nur darum, dass er die im Exploitationkino ja immer vorherrschende Tendenz, dass die Menschen nicht sonderlich freundlich oder hilfsbereit sind – man kann für dieses Kino mehr oder minder verallgemeinern, was Jacques Rievette in denkwürdigen Worten über die Filme Paul Verhoevens sagte: „Es geht ums Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert wird“ – auf die Spitze zu treiben. Es geht dabei aber, und dafür ist es dann doch wieder bedeutend, dass die Arschlöcher hier schwul und obdachlos sind, wiederum nur darum, zu provozieren. Das will auch gute Exploitation, aber sie will, das ist wohl der maßgebliche Unterschied zu schlechter Exploitation, mehr als das.
So geht das weiter. Ohne zu verraten, wie genau (der Film ist über weite Strecken so eigenartig, dass es einen Gutteil seines Reizes ausmacht, dass man keine Ahnung hat, wo das noch hinführen soll), sei doch so viel gesagt: Ein Kind wird geboren werden. An der Kinotür beim Screening auf dem diesjährigen Fantasy Filmfest wurden übrigens Kotztüten verteilt und auch wenn sie wohl niemand im Saal tatsächlich benutzt hat, saut der Film dann im Finale so sehr rum, dass es auch hartgesottenen Genrefans etwas flau im Magen werden kann. Am Ende sind der ganze Film, die Wohnung, die Figuren und Telefone imprägniert mit Kotze, Blut, Scheidensekret und wohl noch anderen Körperflüssigkeiten, von deren Existenz wir zuvor wahrscheinlich nicht mal ahnten. In der vor Dreck geradezu starrenden Wohnung, in der der Großteil des Films spielt, befinden wir uns wohl im Inneren eines Körpers, in der dunklen und schleimigen Höhle, in der wir wohnen. Man darf wohl, den Themen von Geburt et al entsprechend, davon ausgehen, dass es sich um einen Mutterleib handelt.
Und nun? Tja, ich war gebannt, hab mich geekelt, bin mir bewusst geworden, dass das Leben und sein Zyklus, dass Geburt und Tod und alles, was zwischen ihnen liegt, verdammt schmerzhaft sein können (was immerhin eine Erkenntnis ist, wenn auch keine sonderlich neue) und habe mich im Endeffekt dann aber doch nur gefragt: Was soll der Scheiß?