Der italienische Comic-Künstler Zerocalcare (ein Pseudonym für Michele Rech) blickt im Prolog seiner Comicreportage „Kobane Calling“ unter sternklarem Himmel aus drei römischen Metrostationen Entfernung auf die Stadt Kobane und lässt sich von Widerstandskämpfer Gasip, dem „Asterix aus Mesopotamien“, die Akustik des Krieges dechiffrieren: „Wenn du Ratatata hörst, ist es der IS. Hörst du Tum Tum Tum, sind wir es.“ „Und Boom?“ „Kommt drauf an. MG-Feuer und dann Boom, das sind die Amerikaner. Boom und sonst nix, das ist der IS. Feuer von links nach rechts ist der IS. Von rechts nach links, das sind wir. Ganz flach, knapp über dem Boden, sind die Türken.“ – „… Was zur Hölle mache ich hier?“
Comic-Reportagen haben zur Zeit einen guten Stand, vielleicht weil die Welt ihn längst verloren hat. Die großen Namen des Genres – Sarah Glidden, Guy Delisle, Joe Sacco – haben bemerkenswerte Werke geschaffen; sie entwickeln ihre Arbeiten mit dem Ethos des gewissenhaften Journalisten. Was im Umkehrschluss meist bedeutet: Haltung (und das ist im Comic unweigerlich eine visuelle Komponente) ist allenfalls ein Nebenprodukt, und wenn sie doch in Erscheinung tritt, etwa in Saccos Gaza, in dem israelische Soldaten ohne Ausnahme mit hasserfüllten Gesichtern gezeichnet sind und Antisemitismus wie Terrorismus keine Rolle spielen, sobald letzterer nicht Israel zugeschrieben wird, dann in den Grenzen medialer Narrative wie dem Evergreen „Israelkritik“ und der daran gekoppelten mahnenden Empörung aus, versteht sich, steter freundschaftlicher Verbundenheit.
Haltung hat Zerocalcare reichlich zu bieten. Das erklärt sich aus seinem politischen Werdegang. Erst Punk, Straight Edger, Hausbesetzer, Anarchist, dann nachhaltig politisiert durch den Mord an Carlo Giuliani bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001. Seit vielen Jahren lebt er im linken römischen Viertel Rebibbia, und seine starke Verbundenheit mit diesem Ort, der Alltag als linksgrün versiffte Zecke prägt denn auch das Gros seiner autobiografischen Comic-Erzählungen, die in Italien als Webcomic rege gelesen werden und sogar als gedrucktes Buch Bestseller sind.
„Kobane Calling“, sein neuestes und das erste ins Deutsche übersetzte, verkaufte sich dort rund 150.000mal. (Selbst mit einer Null weniger wäre das, gemünzt auf hiesige Verhältnisse, jenseits der Stammarken bereits ein Riesenerfolg. Wann hört das endlich auf?) Darin verlässt Zerocalcare sein geliebtes Viertel (das gleichwohl weiterhin eine große Rolle spielt) und fährt zweimal, 2014 und 2015, ins kurdische Autonomiegebiet Rojava, das sich aus syrischen, türkischen, iranischen und irakischen Teilen zusammensetzt, um, so lautet das selbsterklärte Ziel der Gruppe Autonomer, humanitäre Hilfe zu leisten und eine Medienkampagne aufzubauen, in deren Mittelpunkt die von kurdischen Milizen gegen den IS verteidigte syrische Stadt Kobane steht. Beim ersten Mal blickt man noch von türkischem Boden aus auf die vom IS besetzte Stadt, die zweite Reise führt die Gruppe mitten hinein.
Was Zerocalcares Werk von anderen unterscheidet: Er nimmt sich mit, das heißt sowohl ein in früheren Comics erprobtes fiktives Figurenarsenal, beispielsweise ein Mammut, das Rebibbia repräsentiert und ihn ständig der Doppelmoral überführen will, als auch seine westliche Sozialisation, die er nicht nivelliert, sondern ständig als Folie für Vergleiche nutzt. Darum wimmelt es in dem Buch von Figuren aus „Fist of the North Star“, „Dragon Ball“, den „Simpsons“, „Star Wars“, „Spider-Man“, „Monsters in my Pocket“, den „Muppets“ und zig weiteren Popkulturerscheinungen. Die verbinden sich mit der linken Erkenntnis, dass von Kriegsbildern kaum mehr als eine mediale Strategie kursiert. Beispiel: Auf einem Panel steht ein maskierter IS-Kämpfer mit Zeigestock vor einer Tafel, auf der die meistgeklickten Top-3-Netz-Videos zu sehen sind: 1. Kätzchen fällt in Torte, 2. Enthauptung einer US-Geisel, 3. alles über Eros Ramazotti. – „Wir können noch besser werden.“
„Kobane Calling“ ist der Versuch einer Gegenaufklärung als unabgeschlossener Prozess, dauernd betont Zerocalcare seine dramaturgischen Entscheidungen. Nebenbei eignet sich dieses Vorgehen, die sarkastische Selbstkritik in Permanenz und ganz grundsätzlich der phantastische karikatureske Zeichenstil, die Traditionen des US-amerikanischen Undergroundcomics als politische Hebebühne an.
Schließlich macht Zerocalcare keinen Hehl aus seiner Begeisterung für den demokratischen Föderalismus der Kurden, wie er im Gesellschaftsvertrag von Rojava fixiert ist (das „Recht auf die eigene ethnische, religiöse, geschlechtliche, sprachliche und kulturelle Identität“, auf Bildung, soziale Sicherheit, Gesundheit und Arbeit), vor allem die feministische Praxis hinterlässt starke Eindrücke. Diese Emphase führt nicht nur zu einigen die Doppelzüngigkeit der türkischen Regierung entlarvenden Passagen – sie leistet dem IS stillschweigend und skrupellos Beihilfe im Kampf gegen die Kurden –, sondern am Ende und Höhepunkt des Buches sogar in die irakisch-iranischen Kandil-Berge zu den geheimen Militärcamps der PKK – wo der Punk Zerocalcare, unerwartet wie die Leser/innen, auf Cemil Bayık trifft, Mitgründer der PKK und Nummer zwei nach dem Vorsitzenden Öcalan. Ich habe selten im Comic das Saukomische mit der Sensation so eng tanzen sehen.
Zerocalcare: „Kobane Calling“
Aus dem Italienischen von Carola Köhler. Avant-Verlag, Berlin 2017. 268 Seiten. 24,95 Euro
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret