Familienfeste bergen reichlich Eskalationspotential in sich und sind schon allein deshalb im Kino gern gesehener Ausgangspunkt für die Erforschung innerfamiliärer Konfliktherde und gesellschaftlicher Zustände. Das weiß die aufmerksame Zuschauerin nicht erst seit Thomas Vinterbergs „Das Fest“ (DK 1998). Als Motiv hat das „Familienfest“ (D 2015; R: Lars Kraume) einen wehrhaften Schützengraben auch durch das deutsche Kino gezogen, widmet sich der Vergangenheit und fragt „Was bleibt“ (D 2012; R: Hans-Christian Schmid), wenn man selbst erwachsen geworden ist und meint, die Zwänge der Familie weitgehend hinter sich gelassen zu haben. Wie im Kaspertheater, wo jeder weiß, dass der kostümierte Spaßvogel trotz Schusseligkeit dem bösen Krokodil am Ende immer eins überbrät, folgen Familienfeiern gern einer Dramaturgie absichtsvoller Eintönigkeit. Die Leute tun das, was von ihnen erwartet wird und stellen damit sicher, dass all das sorgsam Verdrängte nicht ans Tageslicht gelangen kann, bis es naturgemäß doch herausbricht und sich eitrig über die Anwesenden ergießt.
Florian Eichingers Familiendrama „Die Hände meiner Mutter“ beginnt dieser filmischen Tradition folgend auf solch einem Fest mit der geschätzten Sippe. Papa (Heiko Pinkowski) wird 60 und auf einer Bootsfahrt sehen die Eltern ihre Kinder wieder, die längst selbst zu Eltern geworden sind und ihre eigenen Kinder vorzeigen. Peinliches „Du bist aber groß geworden!“ und kunstvolles Sich-aus-dem-Weg-gehen wechseln mit lieb gemeint schlimmen Geburtstagsständchen und -reden. Und gerade noch klärt Markus (Andreas Döhler) seinen Sohn Adam über das seltsame Kaspertheater der Erwachsenen an derlei Festtagen auf, schon fällt er selbst aus der Rolle. Ein Kratzer am Kopf seines Sohnes löst Erinnerungen aus. Etwas ist in Markus’ eigener Kindheit vorgefallen und sucht sich jetzt einen Weg an die Oberfläche. Erst als verwirrter Blick, dann als Stimme aus dem Off, schließlich als konkretes Bild aus der Vergangenheit. Alles muss raus, weshalb Markus die Familienfeier von Übelkeit geplagt verlassen muss.
Schnell nähert sich der Film dem Ursprung des Unwohlseins, findet über Markus’ Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch durch die Mutter und knappe Auseinandersetzungen mit Freunden und Familie überraschend zu einem nüchternen Geständnis. Dadurch tritt die Frage wie das passieren konnte in den Hintergrund und der Film konzentriert sich auf seinen Protagonisten und dessen Versuch mit dem aufgewirbelten Familienstaub irgendwie zurechtzukommen. Schon die allererste Einstellung des Filmes legt diesen Schluss nahe. In einer Prospektive werden Markus und seine Frau Monika (Jessica Schwarz) im Bett gezeigt. Die Frage, wie es weitergehen soll, steht ungelöst zwischen ihnen, und auch die innige Umarmung Monikas kann die emotionale Distanz zwischen dem Paar nicht auflösen. Im Umschnitt fährt das Schiff der Geburtstagsgesellschaft genau an der Stelle entlang, wo zuvor der eine Körper sich an den anderen zu schmiegen versuchte und betont noch einmal den Graben zwischen den beiden. Als links und rechts neben dem von oben gezeigten Boot die Namen der Schauspieler eingeblendet werden, öffnet sich eine weitere Dimension. Auf der einen Seite steht die Elterngeneration, auf der anderen die der Kinder. Wie ein Keil treibt das Boot damit unaufhaltsam zwischen den Personen und Generationen hindurch der oberen Bildbegrenzung entgegen und verweist auf die Tatsache, dass das, was Markus in der Kindheit widerfahren ist, sich jetzt nicht nur auf ihn selbst und die Menschen in seinem näheren Umfeld auswirken wird, sondern sich als ein intergenerationelles Problem darstellt.
Von der ersten unscharfen Erinnerung bis zur Erkenntnis, dass sich der Missbrauch durch mehrere Generationen der Familie zieht, gibt sich „Die Hände meiner Mutter“ erzählerisch und visuell ambitioniert. Isolation und Trennung bekommen deutliche Bilder. Die Kamera hält Markus nicht nur im Fokus, sie engt ihn durch gezieltes Spiel mit der Tiefenschärfe oder Rahmungen ein, und in Dialogen wird er in beklemmende Positionen gebracht, steht unter Dachschrägen oder sitzt (oftmals in geduckter Haltung) mit dem Rücken zur Wand. Die reduzierte Farbpalette tut ein Übriges, um die Zuschauerin die bedrückende Situation des Protagonisten nachempfinden zu lassen. Sobald es allerdings um die therapeutische Aufarbeitung der Erlebnisse geht, versachlicht der Film seine Handlung und seine Figuren immer stärker und folgt einer mit Bedacht und Blick auf den richtigen Gehalt hin durchexerzierten Dramaturgie vermeintlicher Objektivität; ganz so, als würde der Film selbst im Therapeutensessel Platz nehmen und mit aller gebotenen Neutralität ausdruckslos Fragen an den Patienten richten. Direkt und wenig subtil werden verschiedenste therapeutische Ansätze vorgestellt, die Familienmitglieder in Beziehung zueinander gesetzt und Lösungsansätze gesucht. Zeigen, ertragen, ratlos bleiben. Raum für überraschende Entwicklungen lässt der Film ab diesem Zeitpunkt nur wenig. Reden ist in „Die Hände meiner Mutter“ immer Trumpf und scheinbar auch sehr einfach. Irritationen und die schwere emotionale Verarbeitung des Erlebten entwickeln im Fluss der Erzählung eine gewisse Gleichförmigkeit, und der Film beginnt – wie das Ausflugsboot vom Anfang – gemächlich voranzusteuern, wodurch Beklemmung und Ausbruch, Eskalation und Rückzug auf eine größtmögliche Rationalität heruntergekocht werden. So sehr „Die Hände meiner Mutter“ damit nicht auf das Spektakuläre schielt, so sehr geht ihm dann doch auch Spannung und die Möglichkeit zur Einfühlung verloren. Dramaturgische Einfälle, wie ein angedeuteter Perspektivenwechsel durch Einblendung von Namen als Kapitelüberschriften, scheinen dem entgegenwirken zu wollen, bleiben aber skizzenhaft und wirken sich eben nicht auf die Handlung, die Figuren oder die Erzählperspektive aus.
Rosa von Praunheims „Härte“ (D 2015) wählte zu einem vergleichbaren Thema einen ungleichsam vielversprechenderen Ansatz. In der Vermischung von dokumentarischer Erzählung und kulissenhafter Reinszenierung der Ereignisse spiegelt sich der schwierige Versuch Erinnerungen abzubilden, derer man sich eigentlich entziehen wollte. Gerade weil in der kriminologischen Nachstellung der Erlebnisse nicht auf Realismus gesetzt wird, werden Mechanismen des Missbrauchs und die damit verbundenen Verdrängungsleistungen erfahrbar. Auch das Punktuelle und Fragmentarische der Erinnerungen, die selten erzählerischen Charakter besitzen, wird so erfahrbarer. „Die Hände meiner Mutter“ ist dagegen ein um gehaltvolle Sachlichkeit bemühter Film, der alles so richtig machen möchte, dass die zentralen Themen Vergessen und Verdrängen gerade nicht dazu führen, dass man nach diesem Film selbst verdrängen will, um vergessen zu können. Stattdessen überwiegt das Gefühl einem sehr guten Lehrfilm beigewohnt zu haben.
Hier gibt es einen weiteren Text zu ‚Die Hände meiner Mutter‘.