Im Programm des Fantasy Filmfest 2010 hatte „Somos lo que hay“ schnell den Status eines Geheimtipps. Ein etwas anderer Kannibalenfilm, gar ein Meilenstein des Kannibalenfilms, vielleicht sogar das für den Kannibalenfilm, was „So finster die Nacht“ für den Vampirfilm war. Wahrscheinlich haben solch aufgeregte Schwärmereien dem Film jetzt einen regulären Kinostart verschafft.
Beim Wiedersehen fällt auf, dass der Film derart »offen« gestaltet ist, dass das Schreiben über den Film wahrscheinlich sogar spannender ist als das Ansehen des Films: Er lässt viele Lesarten zu. „Wir sind, was wir sind“ erfüllt nur sehr am Rande und geradezu offen desinteressiert die Ansprüche des Genres: Der Horror hält sich fast schon altmodisch in Grenzen, Gewalt findet zumeist außerhalb der Kadrage statt. Auch der Kannibalismus funktioniert eher als MacGuffin, setzt die Handlung in Bewegung. Aber gerade das, was dem Kannibalenfilm einst nachgerühmt wurde, der neugierige Blick unter die Haut und ins Gedärm, unterbleibt hier geradezu herausfordernd. Stattdessen werfen wir einen Blick ins Gefüge einer Familie und einer Gesellschaft – beides ist aus den Fugen.
„Wir sind, was wir sind“ ist eine Studie über soziale Anomie und über eine dysfunktionale Familie, getarnt als Kannibalenfilm. Suggestiv die Exposition, die den Film in nuce vorwegnimmt: Ein älterer, etwas zotteliger Mann schleppt sich unter Schmerzen durch eine gut aufgeräumte Shopping Mall, starrt auf nur halb bekleidete Schaufensterpuppen, erbricht plötzlich Blut, stirbt – und wird vom Reinigungspersonal rasch und routiniert entfernt. Bei der Autopsie wird in seinem Magen ein Finger gefunden, unverdaut. Mehr zu uns Zuschauern als zu seinen Kollegen raunt der Arzt: „Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen in Mexico City sich von Menschen ernähren!“ Das kann man als Kannibalismus verstehen, aber auch als Kapitalismus.
Zu Hause wartet die Familie des Toten: Mutter, Tochter und zwei ungleiche Brüder. Die Familie sind Kannibalen und der Vater sollte eigentlich Fleisch beschaffen, ging aber dann doch lieber zu Prostituierten. Jetzt muss der Vater ersetzt werden, was die binnenfamiliale Gruppendynamik ordentlich in Schwung bringt. Jetzt kommt erneut der MacGuffin ins Spiel, denn die Zeit für „das Ritual“ rückt näher – und der älteste Sohn Alfredo scheint von seiner Aufgabe als Ernährer überfordert. Der aufbrausende, gewalttätige und homophobe Bruder Julian ist nur bedingt eine Hilfe, die Schwester Sabina neigt zur undurchsichtigen Intrige.
Der Regisseur Jorge Michel Grau lässt Ritual Ritual sein und zeigt lieber eindrücklich, wie Gewalt aus der sozialen Isolation und Armut entsteht. Für die Identität dieser Familie gilt: Hier wird gemeinsam gegessen! Der Film zeigt den Schrecken zunächst in Form einer Choreografie der Blicke, bevor es dann doch ein paar achtlos hingeworfene Splattermomente gibt, die gerade deshalb recht wirkungsvoll sind. Damit hatte man gar nicht mehr gerechnet. Als die überforderten Brüder auf Menschenjagd gehen, wählen sie zunächst Straßenkinder, dann Prostituierte als Opfer. Doch das Handwerk des Tötens will erlernt sein. Und die Mutter ist nachtragend. Ihr kommt nach Vaters Tod keine Prostituierte mehr in den Topf.
Der Film zeigt Mexico City suggestiv in abgedunkelten Braun- und Dunkelgrüntönen und in Nachtaufnahmen als einen an den Rändern bereits unbewohnbaren Ort; der Zerfall des Sozialen ist mit Händen zu greifen. Es herrscht Sozialdarwinismus, die unterschiedlichen Milieus – man erinnere sich an die Eingangssequenz in der Mall – kommen nur noch in Ausnahmefällen miteinander in Kontakt. Schließlich setzen sich zwei Polizisten eher zufällig auf die Fährte der Kannibalen-Familie. Sie sind nicht sehr helle, werden von ihren korrupten Kollegen verspottet und ihren Entschluss, auf eigene Faust zu ermitteln, später nicht einmal mehr bedauern können. Auf die Polizei sollte man ohnehin nicht mehr zählen: Man löse keine alten Fälle mehr, heißt es einmal ganz lässig, was allerdings nicht bedeute, dass man neue Fälle löse.