Da denkt man, alles sei gesagt – und dann erscheint ein neues Dokument oder gar eine neue Studie, die eine neue Perspektive auf das Geschehen eröffnet. Und wieder geht’s von vorne los: Die Geschichte der RAF scheint eine never ending story. Der Dokumentarist Andres Veiel erzählt jetzt eine Vor-Geschichte der RAF, bei der der biografische Zufall zu seinem Recht kommt. Was muss passieren, damit etwas passiert?, fragt Veiel. Er tut dies mit den Mitteln des Spielfilms, des Kostümfilms. Man kann auch sagen: Veiel versucht eine Bilderkritik mittels inhaltlich alternativer, aber strukturell identischer Bilder. Hat jemand mal gedacht, es sei alles gesagt? Unfug!
Action speaks louder than words. Wer Action will, erzählt von Schüssen, Brandsätzen und Bomben: 2. Juni 1967, 2. April 1968, 11. April 1968, Osterunruhen, Schlacht am Tegeler Weg. Kontext: Bilder vom Vietnamkrieg, Martin Luther King, Robert Kennedy, auf der Straße demonstrierende junge Menschen, Jubelperser, die mit Dachlatten auf Demonstranten einschlagen, Rudi Dutschke, wild gestikulierend. The fury and the sound: Je nach Gemütslage eignet sich als Soundtrack entweder „Street Fighting Men“ der Rolling Stones, „Revolution“ von den Beatles oder, etwas melancholischer, „For what it’s worth“ von Buffalo Springfield. Alles bei Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ nachzulesen und der gleichnamigen Eichinger/Edel-Verfilmung zu bestaunen. Überhaupt hat sich Austs Buch als Fundus bewährt, aus dem sich zahlreiche RAF-Filme von „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ bis „Die dritte Generation“ bedient haben. Das Sub-Genre des RAF-Films ist längst ein ganz erstaunlicher Echoraum aus Bildern, Anekdoten, Gerüchten und auch Schauspielern.
Bei Aust kann man auch auf sehr wenigen Seiten nachlesen, wovon Andres Veiel in seinem ersten Spielfilm handelt. Für den Dokumentaristen Veiel, der sich bereits wiederholt mit der Materie auseinandergesetzt hat, war allerdings ein anderes Buch wichtiger: Gerd Koenens „Vesper Ensslin Baader“ (2003), das in einer Reihe von Tiefenbohrungen die Pathogenese des linken Terrorismus offen zu legen versuchte. Diese Perspektiv-Weiterung auf die Figur des Schriftstellers und Verlegers Bernward Vesper – erster Lebensgefährte Gudrun Ensslins und Sohn eines Blut-und Boden-Dichters – bot reichlich neues Material für eine Milieustudie, wie sie Veiel seit jeher faszinieren. Zudem bot sich dem aus dem Stuttgarter Umland stammenden Filmemacher die Möglichkeit, einmal mehr vor der eigener Haustür – zwischen Tübingen und Bad Cannstatt – zu kehren. Insofern erweitert „Wer wenn nicht wir“ seine eigenen Vor-Arbeiten „Die Überlebenden“ und „Black Box BRD“ um einige Nuancen, die allerdings wohl nur diejenigen Zuschauer überraschen werden, die nicht hinreichend mit der Materie vertraut sind. Wer hingegen bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF, der Neuen Linken, der Studentenbewegung über die Eckpfeiler Eichinger/Edel, Breloer und Knopp hinausgelangt ist, wer das Buch von Koenen, den jüngst edierten Briefwechsel von Ensslin und Vesper, Henner Voss‘ Buch „Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper“ und vielleicht sogar Vespers „Die Reise“, die ja sogar schon 1986 von Marcus Imhoof verfilmt worden ist, gelesen bzw. gesehen hat, wird von Veiels Film enttäuscht werden. Und zwar inhaltlich wie formal. Inhaltlich: Letztlich ist die Perspektivöffnung, die Veiel anbietet, doch nur ein kleiner Schritt zur Seite. Von Baader Meinhof Ensslin zu Vesper Ensslin Baader. Wenn es darum gehen soll zu zeigen, dass die Akteure sich nicht an faschistoiden Eltern rieben, dann hätte Veiel ebenso gut auch noch Ulrike Meinhof ins Boot holen können. Andererseits kann man etwa bei Bommi Baumann nachlesen, dass sehr wohl auch nicht-gutbürgerliche Verhältnisse den Weg in die Gewalt weisen konnten. Warum nicht mal ein Film über Petra Schelm oder Werner Sauber oder Dr. Wolfgang Huber?
In erster Linie, bis hin zu den Achselhaaren der Hauptdarstellerin Lena Lauzemis, ist „Wer wenn nicht wir“ nämlich eine Ausstattungsorgie, die bis hin zur bunten Tapete, bis hin zum Kofferradio, bis hin zum Telefon, bis hin zur rissigen Hauswand den Mief der frühen 60er Jahre in der schwäbischen Provinz, im schwäbischen Pfarrhaus fühlbar macht. So intensiv der Film in Dekors schwelgt, so merkwürdig ungreifbar bleiben dagegen die Figuren und die Dinge, die sie umtreiben. Tatsächlich passiert hier etwas, was man von dem sonst so sorgfältig arbeitenden Filmemacher gerade nicht erwartet hätte: Der Film besteht aus einer Abfolge von lauter Einzelszenen, die einzelne Thesen, Pointen, Recherche-Ergebnisse illustrieren, auf den Punkt bringen. Im Presseheft zum Film findet sich ein Gespräch mit Andres Veiel, das klar macht, dass buchstäblich jede Nuance der Handlung die dramaturgische Verdichtung einer These, Beobachtung oder Schlüsselsatzes ist. Im Grunde ist Veiels filmischer Diskurs also durchaus demjenigen von „Der Baader Meinhof Komplex“ vergleichbar, nur dass Veiels Stoff weniger auf spektakuläre Action aus ist. Veiel rekonstruiert die 60er Jahre gewissermaßen aus der Perspektive des alternativen Literaturbetriebs, allerdings auch hier mit erstaunlichen Unschärfen. Vespers mehr als schillernde Auseinandersetzung mit der modernen Literatur wird auf zwei, drei Sprüche reduziert. Herausgestrichen wird die politische Kontingenz der Aktivitäten des eigenen Verlages, wo man sich einerseits für den verfemten Nazi-Schriftsteller Will Vesper stark macht, andererseits jedoch die hochkarätig links-liberal besetzte Anthologie „Gegen den Tod“ publiziert. Dass Vesper in Tübingen mit Walter Jens über neuere und neueste Literatur disputiert, ist aus heutiger Perspektive besonders lustig, wenn sich Jens, mittlerweile als NSDAP-Parteimitglied identifiziert, hier noch ungebrochen zum moralischen Richter über Nazi-Dichter aufspielt. Veiel jedoch nutzt hier nur das Bild des liberalen Hochschuldozenten, das Jens in jenen Jahre so brillant verkörperte. Während er andererseits manche Szene bereits aus dem Wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte gestaltet, wenn etwa gleich zweimal der schöne Vorschlag des Black Panther Stokely Carmichael im Film erscheint. Der rät Vesper stellvertretend für alle Weißen, die sich mit dem Kampf der Black Panther solidarisieren und die Welt zu einem schöneren Ort machen wollen: „I tell you what you can do: Go home, kill your wife, father and mother, then hang up yourself!“ Was Vesper und Ensslin ja in den folgenden Jahren irgendwie beherzigt haben, zumindest teilweise und symbolisch. Oder wenn Vesper vitalistisch ausholen darf: „Ich schreibe so, wie wenn man mit der Faust der Gesellschaft in die Fresse haut!“ Oder Gudrun Ensslin von Hanns Henny Jahnn schwärmen lässt: „Bei ihm verwirklicht sich die Liebe erst durch den Tod. Durch Gewalt, durch Mord wird es erst möglich, dass Sexualität gelebt wird.“ Ganz schön brisant, wenn einem die Begegnung mit Andreas Baader erst noch bevorsteht!
Während der Film also einerseits sehr an der Oberfläche bleibt, setzt er an anderer Stelle geradezu Kennerschaft voraus: etwa, wenn er die Rolle der USA in der Biografie Ensslins nur andeutet, wenn der elitäre Anti-Amerikanismus, den Vesper vom Elternhaus mitbekommen hat, fast bruchlos in die Antikriegsbewegung gegen den Vietnamkrieg mündet, wenn er zeigt, wie Vesper in Berlin in den literarischen Zirkel des Wahlkontor der SPD aufgenommen wird, aber leider unklar bleibt, mit wem er es hier zu tun hat, wenn plötzlich mit der „Gruppe Spur“ und Dieter Kunzelmann ein ganz neuer, situationistischer Ton in die schwerblütigen Debatten gelangt. Es ist also eine hoch interessante intellektuelle Gemengelage, die viel genauer auszubreiten man Veiel gewünscht hätte. Der entlastet seinen Film von der Aufgabe, all zu viel Zeitkolorit aufhäufen und in Dialog überführen zu müssen, durch den »raunenden« Einsatz von Dokumentarmaterial in Verbindung mit Popmusik – nur, dass bei Veiel dann zu den Bildern von 2. Juni 1967 nicht mehr die Stones, sondern bloß noch ironisch kommentierend Lovin Spoonful zu hören sind: „Summer in the City“. „Heißer Sommer“ heißt ein Roman von Uwe Timm über die Zeit der Studentenbewegung, den man vielleicht mit Gewinn gegen die RAF-Filme halten könnte.
Zur privaten Liebesgeschichte zweier junger Menschen, von denen unklar bleibt, ob ihr Mix aus Existentialismus und Politik nicht vielleicht doch bloß eine Pose ist, gesellt sich die große Politik als Hintergrundrauschen: Kuba-Krise, Kennedy, Vietnam etc. Auf dieser Ebene ist Andres Veiel nicht mehr als eben nur ein weiterer und leider erstaunlich unorigineller Beitrag zu einem viel beackerten Feld gelungen. Je näher der Film dem 2. Juni 1967 kommt, desto weniger originell werden die Bilder von „Wer wenn nicht wir“. Schwerer wiegt jedoch, wofür er gar keine Bilder gefunden hat: für den Eros der Revolte nämlich. Für alles, was mit der Modernisierung der Lebenswelten, mit Pop, Musik, Kino, Drogen zu tun hat. Obwohl Vespers Schizophrenie durch Drogenexperimente befeuert wird, spielt dieses Thema gar keine Rolle, wird nicht gezeigt, obwohl sein unveröffentlichtes Romanprojekt „The Trip“ heißen sollte. Wenn Aufbruch in der Luft liegt, wird ein wenig zu dritt herumgeknutscht und mit Rotwein gekleckert. Andreas Baader bleibt als Andreas Baader von einem merkwürdigen Desinteresse des Films an dieser Figur stigmatisiert: ein Sprücheklopfer, der in einer Schwulenbar zum Mikrophon greift und sich schminkt. Jazz oder Popmusik spielen keine Rolle; die Originalmusik ist denkbar lustlos ausgewählt. Eine Szene spielt im Kino (obwohl sich Baader dort doch allabendlich seine Posen abgeholt haben soll); sie erstaunt alleine dadurch, dass man damals offenbar im Saal rauchen durfte. All das, was wohl auch „geil“ war bei jenem Aufbruch, all die Projekte, die Teach-ins und der Lektürewahnsinn jener Zeit, der ja 1968/69 in den rein physischen Zusammenbruch der Akteure der Revolte mündete, für den ja auch Vespers Trip in den Wahnsinn stehen kann, dafür findet Andres Veiel filmisch überhaupt keinen Ausdruck. Kurzum, es fehlt alles, was Christopher Roths „Baader“ zu einem großen Wurf machte. Insofern ist auch etwas irritierend, dass Veiels Film, der doch eher ein Fernsehspiel geworden ist, wie „Baader“ mit dem Alfred Bauer Preis für neue Perspektiven der Filmkunst ausgezeichnet wurde. Wo Roth durch die Injizierung einer ordentlichen Ladung die Mythenbildung um die RAF aufsprengte, schafft sich Veiel erstaunlich offen ein alter ego im Film: in Gestalt jener Gefängnisleiterin, die versucht Gudrun Ensslin den Marsch durch die Institutionen schmackhaft zu machen. Als Linke, die fest auf dem Boden der FDGO steht, wenngleich es manches gibt, was man durchaus kritisieren kann, nein, muss. Daraus wird aber nur dann ein Schuh, wenn man – wie Veiel es anscheinend ernsthaft vorschlägt – seinen Ausflug in die Geschichte mit den aktuellen Bürgerprotesten in Verbindung bringt – und darin Vorboten einer Re-Politisierung der Gesellschaft (Stichwort: „Wutbürger“) erkennen will. Was man kann, aber sicher nicht muss.