Zur Selbstreferentialität der Filme Jean-Luc Godards, den offenen und versteckten Beziehungen zwischen ihnen, gehört auch die Anwesenheit des Künstlers als Filmemacher in seinem Werk. In „Prénom Carmen“ (Vorname Carmen) aus dem Jahre 1983 inszeniert sich Godard in der Rolle des schrulligen „Onkel Jean“ zunächst als eingebildeter Kranker, der in einer Nervenklinik förmlich auf die Symptome seiner Krankheit wartet. Genie und Wahnsinn liegen in dieser wunderlichen Figur an der Schwelle zum Alter dicht beieinander. Isolation und Distanz zur Gesellschaft verleihen ihr darüber hinaus den Status des Außenseiters und Einzelgängers, der sich einerseits in Selbstmitleid und Fatalismus ergeht, andererseits mit starrem Blick und obligatorischer Zigarre zivilisations- und gesellschaftskritische Sätze zu Protokoll gibt.
„Die Einsamkeit hat mich gezwungen, mich selbst zu meinem eigenen Freund zu machen“, lautet Onkel Jeans ebenso persönliche wie radikale Standortbestimmung, die das zwischenmenschliche Scheitern mit einem schonungslosen Blick auf die eigene Künstlerexistenz verbindet. So macht ihn die unvermeidliche Menschenferne zum Rufer in der Wüste, der noch einmal oder immer wieder die Konsumkritik aus früheren Filmen Godards erneuert: „Die moderne Welt produziert Abfall. Die Macht der Maschinen stellt Güter her, für die es keinen Bedarf gibt. Wir brauchen weder die Atombombe noch Plastikbecher.“ Godard alias Onkel Jean fragt aber auch nach der „Ursache der heutigen Krise“ und verliert sich darüber im Nihilismus: „Die Scheiße ist die Welt, nicht wir.“
Als Filmemacher, der sich in der Rolle des Filmregisseurs selbst inszeniert, verknüpft Godard die lebens- und weltanschauliche Krise seines Alter ego zugleich mit dem Außenseiterstatus einer prekären Künstlerexistenz, deren vermeintliches Scheitern nur ein weiteres Symptom der allgemeinen Krise darstellt. Man habe ihn „rausgeworfen aus der Kinematographie“, sagt Onkel Jean und kündigt in der Folge schon mal seine Rache an. Vielleicht ist Godards eigener ästhetischer Widerstand – die Diskursivität seiner Montagen, die grammatischen Regelverstöße seiner Filmsprache und die Dekonstruktion illusionstischer Bilder und Töne – in diesem Sinne zu verstehen. In „Prénom Carmen“ inszeniert er sich in der Rolle des alternden Filmregisseurs folgerichtig als selbstkritischer („Schlecht gesehen, schlecht gesagt.“), stets neugieriger Sucher, der das Prozesshafte des Filmemachens und die zwangsläufige Auflösung der Grenzen zwischen Dokument und Fiktion betont.
Godards unaufhörliche poetologische Suche, die einerseits ein Ausweis seiner jugendlichen Neugier ist, trägt andererseits altersweise Züge. In „Prénom Carmen“ lässt er Onkel Jean gegen die Inflation der äußeren Bilderwelt die innere Schau beschwören: „Man muss die Augen schließen, anstatt sie aufzumachen.“ Damit einher geht der Rekurs auf den inneren, autobiographischen Schatz von Erinnerungsbildern, wenn er in Anspielung auf Marcel Prousts „Recherche“ erklärt, Filme zu drehen, sei „wie eine Madeleine“. Diese kritische Abkehr von den Moden und Methoden der Gegenwart erzeugt in „Prénom Carmen“ verschiedene ästhetische Resonanzen, die dem Immateriellen jenseits der Bilder und Körper auf der Spur sind, gewissermaßen ihren mystischen Gehalt mittels Film zu evozieren suchen. Die Musik, vornehmlich und ausdrücklich Beethovens späte Streichquartette, wird dabei zum wichtigsten Katalysator. Oder um mit den Worten Onkel Jeans zu sprechen, der anfangs ständig einen Ghettoblaster mit sich herumträgt: „Die neue Kamera macht Musik.“
Als Mittelteil von Godards sogenannter „Trilogie des Sublimen“ (nach „Passion“, 1982, und vor „Je vous salue, Marie“, 1984) bildet „Prénom Carmen“ diese Musikalität in seiner poetischen Struktur ab. Immer wieder unterbrechen die Proben des Streichquartetts die „Carmen-Handlung“, kommentieren, akzentuieren und kontrapunktieren einzelne, präzise geschnittene Musik-Sequenzen das Geschehen; oder aber sie begleiten die Bilder vom Meer, seine wechselnde Bewegtheit zu unterschiedlichen Zeiten; dann wieder orchestriert die Musik nächtlichen Auto- und Zugverkehr und wechselt mit dem Quartett selbst Spielorte und Tageszeiten. Die Entkopplung und Neuorganisation von Bild und Ton evoziert auf diese Weise transzendente Stimmungen und ein Gefühl für das Un(be)greifbare jenseits der Bilder. „Möge das Unendliche eintreten“, heißt es einmal. Und an andere Stelle sagt Claire (Myriem Roussel), die Violoncellistin des Quartetts: „Zeige deine Gewalt, Schicksal! Wir sind nicht Herr über uns selbst. Was beschlossen ist, muss sein.“
Godards Carmen, verkörpert von Maruschka Detmers, ähnelt insofern einer Femme fatale, die ihrem leidenschaftlich verliebten, eifersüchtigen Joseph (Jacques Bonnaffé) zeigt, „was eine Frau mit einem Mann macht“. Im Wechsel von permanenter Anziehung und Abstoßung entfaltet sich zwischen dem Polizisten auf der Flucht und der freibeuterischen Kunstterroristin, die mit geraubtem Geld die vorgetäuschten Dreharbeiten für eine geplante Entführung finanziert, die zerstörerische Kraft der Liebe. „Wenn ich dich liebe, bist du erledigt“, sagt Carmen unmissverständlich zu Joseph. Wenn am Schluss des Films der unheilbar Liebeskranke das Objekt seines Begehrens tötet, zieht Godard damit auch einen Schlussstrich unter seine romantische Phase der 1960er Jahre, als seine liebenden Helden aus „À bout de souffle“ (1959) und „Pierrot le fou“ (1965) in den Tod gingen und – in Anlehnung an ein Faulkner-Zitat – das Nichts dem Leid vorzogen.
„Sein oder Nichtsein ist nicht wirklich die Frage“, sagt Onkel Jean einmal in Anspielung auf Shakespeares „Hamlet“. Wie schon in früheren Arbeiten (etwa in „Vivre sa vie“, 1962) reflektiert Godard auch in „Prénom Carmen“ das Verhältnis von Sein und Sprache. So ist Carmen diejenige, „deren Name man nicht sagen dürfte“ (als würde auf ihm ein Fluch lasten), während Joseph immer wieder die Abkürzung seines Namens in „Joe“ korrigiert und damit die Kontingenz sprachlicher Benennung problematisiert. „Was ist vor den Namen?“ lautet insofern jene Frage nach dem ontologischen Grund, deren Beantwortung erst mit einiger Verzögerung erfolgt: „Der Name Gottes.“ Als gäbe es keine begründbare Verbindung zwischen den Namen und dem, was sie bezeichnen, hält Godard die Frage nach dem Seinsgrund jenseits seiner sprachlichen Benennung also im Offenen. Doch trotz dieser Abschiede, Unwägbarkeiten und vielleicht unbeantwortbaren Fragen, mit denen Godard die Krisen des Alters im Verhältnis zu den (verlorenen) Utopien der Jugend gestaltet, ist „Prénom Carmen“ kein resignatives Werk, sondern das filmische Plädoyer für eine permanente ästhetische Erneuerung der Kunst als Reflex und Ausdruck persönlicher und gesellschaftlicher Krisen.