Ist das nicht schade? Mit „Unter Dir die Stadt“ kommt ein veritables Meisterwerk ins Kino – und viel zu wenige Menschen gehen hin. Um das hinzuschreiben, muss man kein Prophet sein! Denn: „Unter Dir die Stadt“ ist meisterhaft fotografiert, besetzt mit großartigen Schauspielern wie Robert Hunger-Bühler, Nicolette Krebitz und Corinna Kirchhoff. Ein Meisterwerk, so reich an stimmigen Details und Beobachtungen, dass die Intelligenz des Zuschauers sich im Kino nicht beleidigt fühlen muss, vielleicht, weil am Drehbuch auch noch der Schriftsteller Ulrich Peltzer („Teil der Lösung“) mitgearbeitet hat. Der neue Film von Christoph Hochhäusler („Milchwald“, „Falscher Bekenner“) lief bereits im vergangenen Jahr auf dem Filmfestival in Cannes in der Sektion „Un certain regard“ und wurde von der französischen Filmkritik umjubelt, von der deutschen Filmkritik allerdings eher mit spitzen Fingern angefasst. Jetzt läuft der Film endlich hierzulande an – mit gerade einmal 30 Kopien. Hochhäusler ist nicht nur Mitherausgeber des Filmmagazins „Revolver“, sondern auch noch einer Gruppe von Filmemachern zuzurechnen, die man unter dem Markenzeichen „Berliner Schule“ rubriziert. So, jetzt ist alles gesagt: alle diese Signale zusammen und jedes für sich werden dafür sorgen, dass dieses Meisterwerk kein Erfolg wird. Weil längst Filmkritiken erschienen sind, in denen ein vom „Tatort“ zugerichtetes Publikum gewarnt wird, dass der Film es wage, bestimmte Handlungsmotivationen der Figuren nicht lückenlos aufzuhellen. Kurzum: hier müsse man sich als Zuschauer doch tatsächlich eigene Gedanken machen. Sich davon schrecken zu lassen, könnte indes ein Fehler sein! Denn ob das Kinojahr 2011 noch etwas Präziseres, Schöneres, Reicheres und Zeitgenössischeres zu bieten haben wird, scheint doch sehr fraglich.
Was gibt es zu sehen? Einen Film über Macht, Langeweile und die Langeweile der Macht? Eine Amour fou? Einen Vampirfilm? Einen Tanz mit dem Teufel? Ein Spiel mit dem Feuer? Einen filmisch klar strukturierten Systemvergleich über die Gesetze der Leidenschaft und des Business? Von allem etwas bietet dieser sehr präzise und ziemlich reichhaltige, weil realitätsgesättigte Film – und ist doch auch noch eine Mentalitäts- und Habitusstudie vor dem Hintergrund der Welt der Hochfinanz. Es ist dabei sicherlich kein Film über die Finanzkrise, hält aber durchaus Momente bereit, die zeigen, wie die Arroganz der Macht in Hybris, in Selbstzerstörungsphantasien umschlagen kann. Es ist aber auch kein Liebesfilm, aber er hält Momente bereit, die von der anarchischen Qualität der Liebe erzählen. Aber in Liebe gefallen wird hier nicht. „Unter Dir die Stadt“ erzählt nicht von einer verhängnisvollen Affäre bei der Deutschen Bank, sondern ist – man könnte sagen: milieubedingt – die Inversion eines Melodrams ohne Melos. Svenja und Robert spielen ein Macht-Spiel auf dem Feld der Emotionen. Fast könnte man sich an „Zur Sache, Schätzchen!“ erinnert fühlen, wenn Werner Enke Uschi Glas zu einem kleinen Match einlädt.
Wenn Svenja (Nicolette Krebitz) auf der Straße eine Frau sieht, die exakt dieselbe Bluse trägt, ihr in eine Konditorei folgt und dort dasselbe Stück Gebäck verlangt, dann probiert sie etwas aus: Gehen die Gemeinsamkeiten über den Geschmack für Blusen hinaus? Später wird Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) auf der Basis einer Fotografie eine alternative Biografie entwerfen. Findet er seine eigene Biografie zu langweilig, zu stromlinienförmig? Ist es die unterdrückte Gier nach etwas Lebendigem, die Roland erst zu den Junkies, dann zu Svenja treibt? „Unter Dir die Stadt“ erlaubt viele solcher Fragen. Bei manchen dieser Fragen bleibt der Film eine verbindliche Antwort schuldig. Gerade darin besteht seine Qualität.
Die grundlegende Struktur des Films wird vorgegeben durch die biblische Geschichte von König David und Batseba: ein Mann begehrt eine Frau und schafft deren Mann als mögliches Hindernis aus dem Weg, indem er ihn in den Krieg schickt. Eine einfache Geschichte, die aber ziemlich interessant wird, wenn man sie in die Gegenwart verlegt, soziologisch verdichtet und um die Perspektive der Frau ergänzt, die nicht notwendig nur Objekt der Begierde ist. Was geschieht mit dem Begehren, wenn Macht und Abenteuerlust hinzukommen und sich in einer Sphäre begegnen, in der bestimmte Verhaltensmaßregeln und Konventionen gelten? Es geht hier auf mehreren Ebenen des Films um Maskenspiele, um die hohe Kunst des Performens. Darum einerseits, strategisch zwei Züge des Gegners zu antizipieren und darauf eigene Geschäfts- und Handlungsentscheidungen zu gründen. Darum andererseits, sich ständig neu zu entwerfen, gewissermaßen auch biografisch flexibel zu bleiben wie Svenja, die sich permanent neu entwirft und dies durchaus auch provokant, also im Wissen um das Wissen des Gegenübers über die Fiktion. Im Presseheft zum Film erklärt Hochhäusler dazu: „Es geht (…) nicht mehr so stark um die Wirklichkeit einer Person, sondern um ihre Wirkung und um ihre Wirkungsmöglichkeit.“ Klingt anspruchsvoll? Mag sein, aber gleichzeitig ist „Unter dir die Stadt“ sehr konkret.
Svenja und Oliver (Mark Waschke) sind frisch in Frankfurt, wo Oliver einen guten Job bei einer Top-Bank angenommen hat. Svenja hat sich eine kokette Distanz zu Olivers Welt bewahrt, was ihr eine Stärke verleiht, die sie, gepaart mit mädchenhafter Unberechenbarkeit, ungeheuer attraktiv macht. Auch für Roland Cordes, Olivers Chef und aktuell der „Banker des Jahres“. Svenja agiert in der fast schon satirisch gezeichneten und durchkonfektionierten Banker-Welt wie ein Fremd-Körper. Das macht sie interessant und weckt Rolands Jagdinstinkt (in mancher Einstellung erinnert das Spiel von Hunger-Bühler an dasjenige von Klaus Kinski in Herzogs „Nosferatu – Phantom der Nacht“), der Oliver nach Indonesien versetzen lässt – ein Karrieresprung voller Tücke, denn Olivers Vorgänger wurde entführt und in Einzelteilen zurückgesendet.
Hier gelingt die aufregend präzise und detaillierte Beschreibung einer Welt, in der Macht, Biografien und auch Liebe performt werden. Manchmal bietet die Möglichkeit, Schicksal spielen zu können, den ultimativen Kick, angetrieben immer auch von der Lust an der Selbst-Zerstörung. So gibt es hier glänzend choreografierte, fast schon dokumentarische Szenen, die man eher in den Filmen von Harun Farocki und Christian Petzold erwarten würde: wenn beispielsweise Stellenbesetzungen einerseits dem Kalkül der Intrige folgen, andererseits aber streng nach Kompetenz rationalisiert und diskursiviert werden müssen – und selbst eine forcierte Kritik am Gegenüber einem gegensätzlichen, abstrakteren Plan folgt, was der Kritisierte übrigens durchaus durchschaut. Meta-Diskurse. Die diversen Sitzungen in den Führungsgremien zählen zu den Höhepunkten von „Unter dir die Stadt“, sind rhetorisch brillant, perfide und amüsant zugleich, zumal wenn es heißt: „Das muss jetzt nicht mehr ins Protokoll!“ Während es auf einer Ebene des Films also recht archaisch zugeht, wird auf einer anderen Ebene das Leben mit Hochkultur aufgehübscht: Man sammelt zeitgenössische Kunst, auf Hauskonzerten hört man Neue Musik und für die Ehefrauen in dieser Männerwelt gibt es Selbstverwirklichungsräume im Charity-Wesen.
Wie bereits gesagt: „Unter dir die Stadt“ ist reich an Details, verweigert aber glücklicherweise eine thesenhafte Zuspitzung. Einige der Details fügen sich nicht ins Bild, bleiben rätselhaft, wenn etwa der Banker Roland sich beklagt, dass sein Londoner Büro genauso aussieht wie sein Büro in Frankfurt und Svenja dazu die schräge Anekdote einfällt, dass eine Popband einmal das Hamburger Publikum mit einem herzlichen „Hello Munich!“ begrüßt habe. In einer der nächsten Szenen sieht man Roland dann, wie er sich eine CD eben dieser Underground-Band anhört. In immer neuen Variationen zeigt der Film Menschen, die mittels unterschiedlichster Strategien versuchen, Kontakt zu so etwas wie Realität herzustellen oder den Kontakt zur Wirklichkeit nicht abreißen zu lassen. Manche dieser Strategien wirken lächerlich hilflos, andere bodenlos. Rolands kühnes, herausforderndes Spiel mit dem Feuer ist durchaus auch lesbar als ein antizipierter Kommentar zum »Fall« zu Guttenbergs. Dass die Figur Roland Cordes in diesem Sinne vielleicht für mehr steht, wird ganz am Schluss angedeutet, wenn der Sturm losbricht. Wohlgemerkt: angedeutet.