„Tagebuch einer kleinen Küstenstadt“ (Unimachi Diary) lautet der Titel des Mangas von Akimi Yoshida, den Hirokazu Kore-eda für seinen neuen Film „Unsere kleine Schwester“ adaptiert hat. Die auffallende, vom Stoff der Vorlage vorgegebene Abwesenheit dramatischer Ereignisse habe ihn dazu veranlasst, den Lauf der alles verschluckenden Zeit im Verhältnis zu den Konstanten eines bestimmten Ortes zu betrachten und damit zur eigentlichen Hauptfigur zu machen. Alles, was lebt, ist in Bewegung, verändert sich, während sich die Natur in fortlaufenden Zyklen erneuert und Orte ihre mehr oder weniger festgefügte Ordnung bewahren. Im Prozess von Werden und Vergehen gibt es also immer auch Haltepunkte, entsteht eine Identität, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat. Deren Spuren, durch Erinnerung überliefert, materialisieren sich in den Stoffen und Gesten der Gegenwart.
Ein Vater, der schon vor fünfzehn Jahren seine Familie verlassen hat, ist gestorben. Jetzt reisen seine drei erwachsenen Töchter aus der Küstenstadt Kamakura, wo sie im großen Elternhaus zusammenleben, zu seiner Beerdigung an einen entfernten Ort im Landesinnern. Einmal assoziieren sie den Blick über die ausgedehnte Gebirgslandschaft mit demjenigen Übers Meer, als gäbe es zwischen den beiden eine geheime Verwandtschaft. Der Blick zum Horizont eint die Farben der Natur. Auch die Schwestern, geerdet in einem relativ ausgeglichenen häuslichen Miteinander mit verteilten Rollen, schmieden ein geschwisterliches Band. Als sie ihrer bis dato unbekannten, etwa 14-jährigen Halbschwester Suzu (Suzu Hirose) begegnen, die sich nach dem Tod des Vaters bei ihrer Stiefmutter unwohl fühlt, beschließen sie spontan, das für ihr Alter schon sehr ernste Mädchen bei sich in ihrem „Mädchenwohnheim“ aufzunehmen.
Hirokazu Kore-eda, der sich in der Tradition des japanischen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu in seinen Filmen immer wieder mit den Konflikten und Problemen von Familien beschäftigt, beschreibt dieses Miteinander als einen Zusammenhalt, der von Liebe und gegenseitiger Fürsorge getragen wird. „Alles, was wächst, erfordert Pflege“, habe schon ihre Großmutter, die Lehrerin, gesagt, äußert einmal Sachi (Haruka Ayase). Die Ãlteste, die tief von ihren Eltern enttäuscht ist, musste früh Verantwortung übernehmen und kümmert sich um ihre Geschwister. Mit der jüngsten Schwester Suzu verbindet sie eine „gestohlene Kindheit“. Auch in ihrem Beruf als Krankenschwester, die ein Stellenangebot für die neu eingerichtete Palliativstation erhält, kümmert sie sich umsichtig um andere Menschen. Daneben ist sie mit einem Kinderarzt befreundet, der im Begriff ist, sich von seiner psychisch kranken Frau zu trennen und das Land für eine Stelle in Boston zu verlassen.
„Immer wird jemand verletzt“, sagt einmal Suzu, die sich als ungewollt empfindet, aber am neuen Ort wächst und sukzessive ihren Platz im Leben findet. Paradoxerweise hatte sie den engsten Kontakt zum Vater, um den wiederum sie sich gekümmert hat. Während die Zweitälteste Yoshino (Masami Nagasawa), die in für die Insolvenzabteilung eines Geldinstitutes arbeitet, immer wieder von Männern enttäuscht wird und ein wenig dem Alkohol zuneigt, scheint Chika (Kaho), die mit einem Sportler liiert ist, die Unbekümmertste der vier Schwestern zu sein.
Hirokazu Kore-eda ergänzt sein reiches, vielschichtiges Familienportrait, das von großer Menschen- und Schönheitsliebe getragen wird, um weitere Figuren und Nebenstränge. Doch wie im beziehungsreichen Gewebe eines Gemäldes steht nicht ein einzelner Konflikt im Zentrum, sondern das Leben selbst und seine sich wiederholenden Geschichten. Von diesen erzählt der japanische Regisseur völlig unaufgeregt und verhalten, warmherzig und bewegend. Die Darstellung des gemeinsamen, lustvollen Essens, seine Gemeinschaft stiftende Tradition sowie die Freude am Genuss spielen dabei eine besondere Rolle. „Ich bin glücklich, dass mich Schönheit immer noch so stark berührt“, sagt eine Sterbende angesichts einer überwältigenden Kirschblütenpracht. Für sie und die Schwestern gilt solches Empfinden als Zeichen für ein gutes Leben von Menschen, die, so der Regisseur, als Entitäten „eines größeren Ganzen“, „wie Sandkörner am Strand“ sind.