„Du bist ganz anders als die anderen“, sagt die zehnjährige Lisa zu Michael, als sie am Bolzplatz stehen und den Jungs beim Fußballspielen zugucken. Was sie damit meint, wird erst später klar, als die beiden allein sind und Lisa ihren neuen Freund schminkt. Der Junge lässt es über sich ergehen. Doch Michael heißt eigentlich Laure.
Laure und ihre Familie sind neu in der Wohnsiedlung. Für das Mädchen bedeutet der Umzug eine Umstellung: wieder eine andere Schule, wieder neue Freunde finden. Der Sommer neigt sich dem Ende zu, die Kinder genießen die letzten Ferientage. Laure stößt zu der Gruppe; mit ihrem schlaksigen Körper und den burschikos-kurzen Haaren könnte sie glatt als Junge durchgehen. Mädchenkram interessiert sie sowieso nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum sie sich Lisa, dem einzigen Mädchen, als Michael vorstellt. Beim Fußball ist sie nicht schlechter als die Jungs, ein bisschen stolz reicht Lisa ihr während des Spiels das Wasser. Nur als die anderen eine Pinkelpause einlegen, gerät Laura in Erklärungsnot. Gender Trouble. Im Spiel manifestieren sich früh soziale Normen. Subjekte werden konstituiert und dekonstruiert.
Céline Sciamma bedient sich in „Tomboy“ des Rollenspiels als erzählerischem Modus‘, sie interessiert sich für diesen so heiklen wie spannenden Moment der Kindheit. Wenn die Kinder unter sich sind, sind sie ganz sie selbst und gehen gleichzeitig in Rollen auf. Laures kleine Schwester Jeanne läuft im rosa Tutú durch die Wohnung und spielt mit Puppen – weil sie gelernt hat, dass Mädchen so was tun. Später erzählt sie Laures Freunden von ihrem starken großen Bruder; prompt verprügelt Laure/Michael einen anderen Jungen, der Jeanne geschubst hat. Der Vater wiederum meint ernsthaft, dass er Laure endlich das Pokern beibringen muss.
Derart verwirrt von Geschlechtervorstellungen genießt Laure ihre Rolle als Michael, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu werden. Als der Schwindel auffliegt, verliert auch das Spielen seine Unschuld. Sciamma aber nimmt alle Gefühle gleich ernst. Laure, die ihr eigenes Jungsding einmal ausprobieren möchte; Lisa, die sich in Michael verliebt hat; Jeanne, die ihr Kindsein noch ausleben kann. Und die Eltern, die von Laures Geschlechterverwirrung zunächst schockiert sind. Für Sciamma gehören Rollenspiele zu den prägenden Kindheitserfahrungen. Aber irgendwann ist auch der unbeschwerteste Sommer vorbei.