Lange Einstellungen, ruhige, geometrische Kamerafahrten, Beobachtung alltäglicher Dinge: Wenn im Kino das Vergehen von Zeit fühlbar gemacht werden soll, dann denkt man mit Grausen an Theo Angelopoulos oder den späten Tarkowski. Sion Sono, hierzulande bekannt durch seine lustvoll perverse Pop-Oper „Love Exposure“, hätte man eine solch introvertierte Meditation nicht zugetraut. Mit „The Whispering Star“ gelingt dem Japaner jedoch etwas, was im Kino selten funktioniert. Eine kontemplative Stilübung, bei der man gebannt zusieht – und zwar nicht deswegen, weil einem die Stimme der Vernunft zuwispert: das musst du jetzt gut finden, weil es Kunst ist.
Schon das Ungleichgewicht zwischen der manifesten Erzählebene und der Backstory ist eine Herausforderung. Der Film spielt die meiste Zeit über im Inneren eines schäbigen Containers. Es handelt sich um eines jener kargen „Übergangshäuser“ für jene Menschen, die aus dem radioaktiv verseuchten Fukushima evakuiert wurden. Sonos Ehefrau Megumi Kagurazaka spielt eine einsame Frau, die in dieser Enge Tee kocht. Immer wieder. Sinnlos erscheinende Einblendungen der Wochentage verdeutlichen, dass die Zeit still steht. Irgendwie scheint das aber kein Problem zu sein. Mal raucht die Frau eine Zigarette, dann spricht sie ihre Erinnerungen auf ein Tonband, das Smartphonebesitzer von heute wahrscheinlich gar nicht mehr bedienen könnten. Eine Kiste mit besprochenen Bändern zeigt, dass ihre Isolation schon ziemlich lange andauert. Warum nur macht der Frau diese monotone Eintönigkeit nichts aus?
Dieses Rätsel schlägt den Zuschauer in den Bann. Man nimmt Anteil an den hingehauchten Berichten Yoko Suzukis, so ihr Name. Ihren Erzählungen vom Wasserhahn, der seit Neuestem seltsame Geräusche von sich gibt, tropfen auch in unser Bewusstsein. Nach geraumer Zeit erst erblicken wir den Container aus der Außenperspektive. Zu sehen ist ein kleines japanisches Häuschen mit Holzvertäfelung, Fernsehantenne – und Düsenantrieb. Das seltsame Gefährt schwebt durch die Weiten der Galaxis. Na ja, Georges Méliès hätte diesen Filmtrick womöglich besser hinbekommen. Es geht Sono nicht um eine realistische Anmutung von Technik; er stellt das Genre geradewegs auf den Kopf. Sein fliegendes Holzhaus mit dem Gasherd und der bollernden Waschmaschine ist Anti-Science-Fiction.
Die per Schrifteinblendung erfolgende Erklärung zu Beginn, Yoko sei ein Androide, eine Maschine „mit künstlicher Intelligenz“, ist daher mit Vorsicht zu genießen. Was macht dieses Wunderwerk der Technik? Sie schrubbt den Boden und reinigt die Neonleuchte von toten Faltern, die sich hinter dem Lampenschirm aus Milchglasplastik verfangen haben. Bei Bedarf repariert sie auch den sprechenden Computer, der aus Röhren und alten Verlängerungskabeln besteht. Sonos charmante Retro-Offensive erinnert weder an das Bügeleisen aus „Raumpatrouille Orion“, noch an die holzvertäfelten Raumschiffe in David Lynchs „Wüstenplanet“. Mit seinen amüsanten Sci-Fi-McGuffins erschließt der japanische Regisseur Sphären, in die das Kino selten vordringt. Seine Weltraumreise ist eine poetische Assoziation.
In diesem Sinn schmuggelt der kreative Regisseur, der allein im Jahr 2015 fünf Filme ins japanische Kino brachte, ganz beiläufig die Backstory ein. In einer nicht näher definierten Zukunft, so erfahren wir nach einer dreiviertel Stunde Spieldauer, sei das Transportproblem gelöst. Menschen können ohne Zeitverlust jeden beliebigen Ort des Universums erreichen. Durch Teleportation. Jedes exotische Paradies ist nur noch so weit entfernt, wie das Nebenzimmer. – Es verwundert nicht, dass diese technologische Sensation in keiner Szene gezeigt wird. Ganz entspannt überspringt der Film den „Star Wars“ und „Star Trek“-Trash. Er zeigt gleich die degenerative Folgeerscheinung dieser ultimativen Übersättigung in Gestalt einer seltsamen Agonie, die sich in der gedämpften Grundstimmung des Films, seinen Schwarzweißbildern und dem durchgehenden Flüstern seiner Protagonisten ausdrückt.
Jene Menschen, die sich aller materieller Probleme entledigt haben, werden verkörpert von Laiendarstellern aus Fukushima. Die Ruinen der nach der nuklearen Katastrophe verlassenen Geisterstadt mit ihren abgestorbenen Bäumen setzt der Film eindrücklich in Szene. Die für Japan typische Fetischisierung der Technik und die ultimative Zerstörung durch die atomare Katastrophe verschmelzen zu einem eindringlichen Bild.
So versteht man, nach geraumer Zeit, auch Yoko Suzukis „Mission“. In einer Epoche, in der Entfernungen keine Rolle mehr spielen, schicken die Menschen sich auf die „altmodische“ Art Päckchen, die Yoko auf ihren langen Wegen von Stern zu Stern zum Teil mit mehrjähriger Verspätung anliefert. Hinter einem Gepäcknetz im Rückraum ihres fliegenden Containers sind Schachteln aufgestapelt. Yoko ist Paketbotin aus der Ewigkeit. In einer Epoche, in der Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen, ist das Warten auf Yokos Päckchen futuristischer Luxus und Lebenselixier zugleich.
In den großen, stylischen Paketen, die Yoko ausliefert, befindet sich jeweils ein einzelner Gegenstand. Ein Filmschnipsel, eine Palette, ein Zigarettenstummel oder ein Schmetterling. Symbole, die das Gedächtnis an eine Zeit vor der großen Erstarrung auffrischen, als die Menschen noch auf konventionelle Weise miteinander „verkehrten“. Mit diesem metaphorischen „Verkehr“ schmuggelt Sono eine unterschwellige (Love-)Story ein. Die Paketbotin trifft einen einsamen Mann, der mit einer klappernden Blechdose unter der Schuhsole durch die Ruinen streift. Das ist schön und lächerlich zugleich. In der letzten Szene packt Yoko diese zertretene Dose in eines ihrer Pakete. Die Bestimmung ist klar. Vielleicht werden Yoko und dieser Mann sich treffen. Irgendwann.
Als „kleines Gedicht über das Verblassen von Erinnerungen“ bezeichnet Sono seinen Film treffend. Wer keine Poesie mag, dem wird dieses eigenwillige Sci-Fi-Retro-Kammerspiel langatmig und prätentiös erscheinen. Wer sich aber darauf einlässt, dass der Japaner nicht im landläufigen Sinn von Androiden und sprechenden Computern erzählt, der geht mit diesem Film auf eine etwas andere „Odyssee im Weltraum“. Die ist weder metaphysisch schwer wie bei Kubrick, noch satirisch wie bei Carpenter. Es ist die kontemplative Suche nach der verlorenen Zeit, die Begegnung eines pfeifenden Wasserkessels mit einer elektrischen Schatzkiste, irgendwo am Rand der Ewigkeit.