Jeder Streifzug durch die amerikanische Geschichte des Voodoo führt zwangsläufig über New Orleans: The Big Easy, Stadt der guten und bösen Geister, wo die Lebenden in den Straßen ihre Toten zelebrieren. Und natürlich führt kein Weg vorbei an „Treme“, der neuen HBO-Serie des „The Wire“-Erfinders David Simon über das Leben in New Orleans nach Katrina. „Treme“ ist auch für Musikfans eine kleine Offenbarung, weil die Serie aus dem schillernden Repertoir lokaler Straßenmusiker, Blues-Prediger und Szene-Größen schöpft, die in unbezahlbaren Cameo-Auftritten ein Stück marginalisierter Musikgeschichte verkörpern. In der zweiten Episode zieht die New Orleans-Legende Coco Robicheaux vor den Augen eines Radiomoderators (Steve Zahn) ein Huhn aus dem Sack und schneidet dem Federvieh unter rituellen Beschwörungen den Hals durch. “Some deep New Orleans shit,” wie Zahn das Opfer lapidar kommentiert.
Tremé ist schon immer die erste Adresse für “deep New Orleans shit” gewesen. Der Stadtteil westlich des French Quarter stellt mit seinem ureigenen Synkretismus aus Aberglaube, Magie und westlichen Hochreligionen, europäischer, afrikanischer und karibischer Musiktraditionen, Voodoo und Southern Gothic, Fried Chicken und Gumbo, so etwas wie einen genuin amerikanischen Schmelztigel dar. Hier erfand Jazz-Legende Jelly Roll Morton in den Puffs von Storyville sein Maschinengewehr-Pianospiel; und in einer dieser düsteren Seitenstraßen soll es sich auch, so überliefert es der Musikanthropologe Alan Lomax, zugetragen haben, dass dessen Patentante, eine Expertin in schwarzer, kreolischer Magie, die Seele Mr. Mortons dem Teufel anbot. Jazz und Voodoo, das war von Beginn an eine fruchtbare Verbindung. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten sich die befreiten Sklaven die zurückgelassenen Instrumente der Dixie-Marschkapellen geschnappt und auf dem Blech mit ihren Heiligen kommuniziert. Jazz war die säkularisierte Form der spirituellen Musik ihrer afrikanischen Vorväter. Mit allem Hokuspokus, der dazu gehörte.
Natürlich landet ein afro-amerikanischer Schriftsteller auf der Suche nach den Wurzeln seiner eigenen Spiritualität früher oder später in New Orleans. Darius James hat seine Affinität zu “Hokuspokus” aller Art bereits in den frühen neunziger Jahren unter Beweis gestellt. In seinem Kultroman “Negrophobia” erlebte die neureiche, blonde, sexgeile Teenagergöre Bubbles einen fantasmagorischen Trip durch das Spiegelkabinett des amerikanischen Rassismus. Von der schwarzen Haushälterin mit einem Voodoo-Fluch belegt, fällt sie durch das halluzinogene Raum/Zeit-Kontinuum einer afro-amerikanischen Figurentypologie. Hier begegnet sie cracksüchtigen Homeboys, dem Trickster Uncle Rap Ramus, Dr. Mengele Duck, dem Elvis Zombie und anderen popkulturell kodifizierten und deformierten Cartoongestalten. Spirituell war das vielleicht noch etwas unausgegoren, auf eine hochgradig delirante Weise aber erleuchtet.
Seine ersten tiefergehenden spirituellen Erfahrungen machte James Jahre später durch den Tod seines Vaters. Im dessen Nachlass stößt er zu seiner Überraschung auf eine Sammlung afrikanischer Masken. Hatten die Kultobjekte für seinen Vater etwa eine religiöse Bedeutung? Und in welcher Weise leben Ausdrucksformen afrikanischer Spiritualität in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft fort? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt von Oliver Hardts Dokumentation “The United States of Hoodoo”, die Darius James auf seiner Spurensuche durch die Vereinigten Staaten begleitet. In New Orleans wohnt er einer Voodoo-Zeremonie bei. Und ein befreundeter Schamane erklärt ihm, warum Symbole und mythische Figuren afrikanischer Provenienz in den Überlieferungen amerikanischer Ureinwohner zu finden sind. Die Sklaven hatten sich mit den eingeborenen Amerikanern gegen die weißen Unterdrücker verbündet. Und die Europäer fürchteten, nicht zu Unrecht, die geballte Macht des Juju und des Animismus der indigenen Medizinmänner. Ende des 18. Jahrhunderts zettelten afrikanische Sklaven auf Haiti – angeblich mit Hilfe von Voodoopriestern – einen Aufstand gegen die französischen Kolonialisten an und vertrieben sie von der Insel. Rituale, eine Erkenntnis aus der christlichen Religionssoziologie, erzeugen Macht.
Diese Angst hat der weiße Mann bis heute nicht überwunden. Als Haiti vor zwei Jahren von einem Erdbeben verwüstet wurde, wetterte der Fernsehprediger Pat Robertson, das Erdbeben wäre Gottes Strafe für das haitianische Volk, das sich zweihundert Jahre zuvor mit dem Teufel verbündet hätte. Mit seinem Kommentar empfahl Robertson sich nebenbei auch für eine Rolle in Darius James’ nächstem Roman. Robertsons Tirade vereinte alle Klischees, die im westlichen Kulturzusammenhang bis zum heutigen Tag mit dem Begriff “Voodoo” assoziiert sind. 1929 reiste der amerikanische Okkultist William Seabrook nach Haiti, um die religiösen Bräuche der Einheimischen zu erforschen. Seinen Reisebericht “The Magical Island” verfilmte Hollywood drei Jahre später als Horrorfilm: “White Zombie” von Victor Halperin.
James versteht afrikanische Spiritualität weder als primitiven Volksglauben noch als festgeschriebenen Katechismus (weswegen der Filmtitel auch eine Abgrenzung zum traditionellen Voodoo-Begriff vornimmt), sondern als Seismograf einer bewusstseinserweiterten Realitätsauffassung – und somit auch als einen bilateralen, postkolonialen Diskurs im Sinne von Paul Gilroys “Black Atlantic”. Eine Schnittstelle von körperlicher und geistiger Welt, symbolisiert im Kreuzzeichen der Heiligenfigur Legba. (Auch Robert Johnson verkaufte seine Seele bekanntlich an einer Straßenkreuzung) Eine intelligente Energie, wie die Voodoo-Priesterin Sallie Ann Glassman es im Film nennt, als Orientierungshilfe für ein holistisches, moralisch verantwortliches Handeln. Und notfalls eben auch als strategische Waffe. In Ishmael Reeds “Mumbo Jumbo” (1972) nahm diese Spiritualität eine virale Gestalt an: Jes Grew war eine “Krankheit”, hervorgegangen aus der Polyrhythmik westafrikanischer Yoruba-Musik, Jazz, afro-karibischer Magie und der politischen Dynamik der Bürgerrechtsbewegung, die sich als eine Art Besessenheitstanz rasant unter der schwarzen Bevölkerung ausbreitete.
Reed kommt in “United States of Hoodoo” gewissermaßen als Stimme der Vernunft zu Wort. Er sieht in afrikanischer Spiritualität, ausgehend von der “schwarzen Erfahrung” der Sklaverei über die geschichtsbewussten Improvisationen im Jazz bis hin zu den religiösen Ursprüngen der Bürgerrechtsbewegung, die Grundlage für eine zeitgemäße Interpretation von Religion. Erst wenn sich der Mensch von allen kirchlichen Dogmen befreit habe, sei sein Geist offen für eine höhere spirituelle Erfahrung. Oder wie Darius James es auf seine unnachahmliche Weise formuliert: Unter Einfluss einer authentischen Voodoo-Erfahrung wird das menschliche Bewusstsein außer Kraft gesetzt. Eigentlich eine verlockende Vorstelllung. Mir jedenfalls fallen auf Anhieb ein paar Personen des öffentlichen Lebens ein, die von einer Voodoo-Behandlung geistig profitieren würden.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/12