Ein Schneewestern im Grand Guignol-Stil: ein großes Kasperletheater der Grausamkeiten, erzählt in sechs Kapiteln, mit feinziselierten Dialogen, allerlei Boshaftigkeiten in Wort und Bild, dramaturgisch mit (mindestens) doppeltem Boden, visuell so breitbeinig-großspurig inszeniert, wie durch die Beschränkungen der Handlungsorte begrenzt. Die theatral anmutende Hauptbühne des grellen Schauerstücks: Minnie‘s Haberdashery, ein „Kurzwarengeschäft“, in dem es alles, wirklich alles, nur eben keine Kurzwaren gibt. Den klaustrophobischen Handlungsort fotografiert Tarantinos Stammkameramann Robert Richardson im luxuriös-verschwenderischen Breitwandformat Ultra Panavision 70, mit auffällig gesetzten Lichtspots, die nie glaubwürdig eine Motivation durch den filmischen Realismus behaupten. Das Format kam in der Filmgeschichte bislang gerade zehn Mal zum Einsatz, unter anderem für monumentale Extravaganzen wie William Wylers „Ben-Hur“ (1959) und Anthony Manns „The Fall of the Roman Empire“ („Der Untergang des Römischen Reichs“; 1964) – für ein Quasikammerspiel wie „The Hateful Eight“ ist das ein ziemlich teurer Witz auf Kosten der Filmgeschichte, aber durchaus schön anzusehen.
Natürlich ist auch Minnie‘s Haberdashery ein alles andere als karger Ort, sondern vielmehr ein barock überladener, multifunktionaler und überdimensionierter Tante-Emma-Laden mit Eisen- und Süßwarenabteilung, angeschlossener Bar, Lounge und Saloon, primitivem Restaurant und Ruhebereich (komplett mit Federbett). Als sozialer Raum ist diese aus groben Bretterbohlen zusammengenagelte zugige Monstrosität, durch deren Ritzen die Schneeflocken des vor der Tür tobenden Sturms in pittoresken Lichtbahnen tanzen, eine Miniatur der amerikanischen Gesellschaft und der Gemeinheiten, die sie hervorbringt. Das ist naheliegend und wurde ähnlich schon mit den offensichtlichen Vorbildern, der Wüstentaverne in Sergio Leones „C’era una volta il West“ („Spiel mir das Lied vom Tod“; 1968) und deren dreißig Jahre älterem funktionalem Vorbild, der Kutsche in John Fords Klassiker „Stagecoach“ („Ringo – Höllenfahrt nach Santa Fé“; 1939), betrieben. Bei Ford ging es um das amerikanische Bürgertum – repräsentiert u.a. durch einen korrupten Bankier, eine aufrichtige Prostituierte, eine bigotte Gesellschaftsdame, einen versoffenen Arzt und das von John Wayne gespielte virile Ringo Kid. Auf engstem Raum zusammengepfercht mussten sie in Kriegszeiten sich gegen den Feind im Inneren wie außen bewähren (um die Kutsche tobt ein Indianerkrieg, drinnen sitzen die Verräter, in der außerfilmischen Realität erschüttert der Zweite Weltkrieg die Menschheit).
Tarantino, der sich bevorzugt mit postklassisch/postmoderner Wendung auf die Filmgeschichte bezieht, arbeitet sich nach „Django Unchained“ freilich ein weiteres Mal an einer filmischen Meditation über „Rasse“ und Klasse, Nord und Süd, Mord und Totschlag, Freund- und Feindschaft ab. Dabei bezieht er sich explizit auf die Dekonstruktion des Westerngenres in Europa, wo Regisseure wie Sergio Leone und Sergio Corbucci Fords Western nach dem Krieg für sich entdeckten, um im Anschluss das Genre mit Hohn und Spott, Blut und Gewalt noch einmal neu zu erfinden und zugleich zu beerdigen. Wenn man so will, verfährt Tarantino nun mit Corbucci und Leone wie diese einst mit Ford und dem klassischen Western: Der Re-Lektüre folgen Anverwandlung und Umdeutung, bald Übersteigerung und Parodie, schließlich auch Threnodie oder absoluter Nihilismus. „The Hateful Eight“ betreibt all das, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber in ein und demselben Film. Als cineastische Exkursion in die Höhen und Untiefen der Filmgeschichte ist „The Hateful Eight“, wie kaum anders zu erwarten, ein Film mit mehrfacher Metaebene; auch, aber nicht ausschließlich, vor der Folie der Filmgeschichte zu lesen. Die wesentlichen Bezüge neben den bereits genannten, sind mal seriös, mal eher von den Rändern der Filmgeschichte geräubert: etwa von Archie Mayos Gangstermelodram „The Petrified Forest“ („Der versteinerte Wald“; 1936) und John Frankenheimers Eugene-O’Neill-Adaption „The Iceman Cometh“ (1973); von den nihilistischen Splatter-Eurowestern „Il grande silenzio“ („Leichen pflastern seinen Weg“, 1968; Sergio Corbucci) und „Condenados a vivir” („Todesmarsch der Bestien“; 1972; Joaquín Luis Romero Marchent); aber auch von späten Genre-Crossovers wie John Carpenters „The Thing“ („Das Ding aus einer anderen Welt“; 1982) und Antonia Birds „Ravenous“ (1999) oder dekadenten Hochglanzausstattungsfilmen wie Sidney Lumets schillerndem All-Star-Cast-Mystery „Murder on the Orient Express“ („Mord im Orient-Express“; 1974).
Wie bei Ford wird die Zwangsgesellschaft der „Hateful Eight“ von außen wie aus der Gemeinschaft heraus bedroht – draußen tobt ein Blizzard, drinnen herrscht das Motto „Jeder gegen Jeden und Gott gegen alle“. Alle sind hier Falschspieler, tragen falsche Namen und Aliase, lassen gefälschte Briefe kreisen und erzählen sich falsche (oder zumindest fragwürdige) Geschichten. Kurz: Sie sind Geschichtenerzähler, besessen davon zu reden – und sei es, dass sie sich dabei um Kopf und Kragen bringen. Selbst der filmische Raum lügt und erzählt demjenigen eine Geschichte, der die Zeichen zu lesen vermag: Unter dem Bretterboden liegt ein zweiter Raum (wir wollen an dieser Stelle besser nicht zu viel erzählen) und eine verräterische Spur aus Jelly Beans liefert einmal ein wichtiges Indiz, um einen Verräter zu enttarnen.
Es ist eine kuriose und mit galligem Witz überzeichnete Gesellschaft, die sich in der grotesken Herberge eingefunden hat. Da wäre etwa der von Kurt Russell gespielte Kopfgeldjäger John „The Hangman“ Ruth, ein in einen speckigen Bärenfellmantel gewickelter Trampel, der sich in jeder gesellschaftlichen Interaktion wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt und niemandem außer sich selbst traut. Oder der von Sam Jackson gespielte ehemalige Ex-Nordstaatensoldat Major Marquis Warren, der als schwarzer Kopfgeldjäger bevorzugt Weiße tötet, Hercule Poirots Deduktionsgabe mit Sadismus und Blutdurst vereint und einmal eine unfassbare Geschichte über sexuelle Gewalt und fehlgeleitete Rache erzählen wird, deren filmische Bebilderung zum Geschmacklosesten zählt, was Tarantino in seiner ganzen Karriere inszeniert hat. Hinzu kommt ein wieseliger Redneck (Walton Goggins – die unterhaltsamste der Figuren), der als Outlaw-turned-Sheriff sich noch nicht ganz in seine den Rechtstaat tragende neue Rolle gefunden hat; und ein wortkarger Mexikaner (stoisch bis zur Versteinerung: Demián Bichir). Komplettiert wird das Ensemble durch einen affektierten Henker mit lächerlichem britischen Akzent und dubiosen rechtsphilosophischen Ansichten, den Tim Roth als grandiose Parodie auf Christoph Waltz angelegt; den schmierigen Cowboy-Outlaw Joe Gage (Michael Madsen), der wie eine schlecht gealterte Ausgabe von Waynes Ringo Kid wirkt, im Alter fett, träge und gemein geworden; sowie einen zauselhaften alten Südstaatengeneral, gespielt von Bruce Dern, der einst in Mark Rydells „The Cowboys“ (1972) Filmgeschichte schrieb, als er den „Duke“ John Wayne erschießen durfte. Mittendrin und nur scheinbar außen vor: die aasige Banditenkönigin Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh), um die die Handlung kreist und die in ihrer Hyänenhaftigkeit bestens zum restlichen Personal passt. Was alle eint, sind Niedertracht und Gehässigkeit, Rachsucht und Boshaftigkeit, Rassismus, Menschenhass und Zynismus. Wenn die skurrile Post-Sezessionskriegsgemeinschaft die zugige Hütte unter sich aufteilt, um abermals eine Grenze zwischen Nord und Süd zu ziehen, dann verweist das wie der grassierende Rassismus und die Misogynie weniger auf das historische Amerika um 1870, als auf den großen Graben, den Tea Party, Polit-Populisten wie Trump und die ausufernde Polizeigewalt gegen Minderheiten in den letzten Jahren aufgerissen haben.
Als Spektakel wird „The Hateful Eight“ mit seiner ausufernden Laufzeit von 167 Minuten – in der 70mm-Roadshow-Version sogar auf 187 Minuten gedehnt – für das große Publikum aber doch wohl eine Enttäuschung. Sicher, die ersten, fast ausschließlich von Dialogen und Morricones düsterem Score akzentuierten zwei Stunden sind als Abfolge geschliffenen Parlierens höchst unterhaltsam, kommen mitunter nahe an dem absurden Humor von Monty Python. Dann aber beginnt das große Sterben – und das wird so lang und qualvoll inszeniert wie einst in Tarantinos Debüt „Reservoir Dogs“ („Wilde Hunde“; 1992). Der Wechsel in Tonalität und Tempo, auch eine spät nachgereichte, für sich genommen zwar überragend inszenierte Rückblende, in der die Vorgeschichte erzählt wird, tun dem Film strukturell leider nicht gut. Schon bei „Django Unchained“ (2012) gab es einige Längen – das Splatstick-Finale war einfach zu viel des Guten, wirkte wie ein überflüssiges Addendum und Zeichen einer bislang ungekannten Unentschlossenheit dieses Filmemachers, der mit „Inglourious Basterds“ 2009 sein definitives Meisterwerk abgeliefert hat. Auch die rassistischen Grenzüberschreitungen, die er seitdem wie besessen als performative Akte in seinen Filmen ausagieren lässt, haben sich längst auf unangenehme Weise verselbstständigt. Hier läuft Tarantino Gefahr, zu seiner eigenen Parodie zu werden.
Wo die gefühlt hundertste Erwähnung des ätzenden „Nigger“-Wortes ihre Wirkung verfehlt, ist es diesmal die exzessive Gewalt gegen die einzige relevante Frauenfigur des Films, die in diesem wortgewaltigen Affektkino darauf angelegt ist, dem Kinopublikum eine dezidiert körperliche Reaktion abzuringen. Jennifer Jason Leighs Daisy bekommt mal die Faust ins Gesicht gedroschen, dann den Ellbogen aufs Auge, darf Zähne spucken und wird nach und nach zu blutigem Brei geschlagen. Das ist so konsequent wie schrecklich und bündelt im Guten wie im Schlechten das Progressive und Reaktionäre des Filmemachers Tarantino. Denn einerseits ist Daisy Domergue auf Augenhöhe mit den verwilderten Männern dieses Films: von rasender Wut und lauernder Kraft, mindestens so zäh und boshaft wie die Kerle und in ihrem unbedingten Überlebenswillen wohl auch die vernünftigste Figur im ganzen Ensemble. Wenn Leigh in der Kutsche den Ellbogen ihres Bewachers ins Gesicht gehämmert bekommt, dann legt die Schauspielerin in ihre anschließende Großaufnahme einen ganzen Strauß widersprüchlicher Regungen hinein: Wut und Trotz, Stolz und Überheblichkeit, Schmerz und Übelkeit, Hass und dunkle Erotik. Mal wirkt sie wie eine bleiche Geistererscheinung aus Kaneto Shindos expressivem Geister-Chanbara „Onibaba“ (1964), dann wieder so animalisch wie die Männer, wenn sie das Blut von ihren Lippen leckt, Schneeflocken mit offenem Mund isst oder Zähne durch den Raum spuckt. Aber so stark diese Figur trotz ihrer Ketten ist, der Film, der als groteske Komödie beginnt und als blutiger Körperhorror endet, degradiert sie letztlich doch über weite Strecken zum menschlichen Sandsack. Im Gegensatz zu Jamie Foxx‘ Django darf Daisy nie ihre Ketten verlieren.
In der Schlusseinstellung – und wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte an dieser Stelle aufhören zu lesen – gelingt es Tarantino tatsächlich, in einem Bild fast alles zusammenzubringen, was sein Kino ausmacht: Grenzüberschreitung und Genrevermischung, den reaktionären und selbstgerechten Aufstand eines äußerst begabten Autodidakten gegen den Mainstream, dessen Teil er längst geworden ist, zugleich aber auch so etwas wie „kritisches“ Filmemachen. Wenn Daisy nach einem bösartigen Akt der frontier justice blutbesudelt vom Deckenbalken baumelt, darunter die feixenden, selbst sterbenden Männer, die auf dem Bett langsam ausbluten, dann ist sie eine Wiedergängerin des Gekreuzigten, der als Hommage an Sam Fullers Kriegsfilm „The Big Red One“ (1980) den Film in Großaufnahme eröffnet. Ihr grausamer Tod überhöht Daisy und verleiht ihr zudem den Rang einer Sozialbanditin. Es waren in den Filmen des von Tarantino immer wieder bis in Einzelbilder zitierten Sergio Leone (ebenso wie grundsätzlich im Westerngenre) ja immer die outcasts und Proletarier, die aufgeknüpft werden, die Aufwiegler, Egomanen und Anarchisten. Hängen war im viktorianischen England, auf das auch Roths Henker-Figur verweist, die Strafe für wiederholtes Betteln, in B. Travens Abenteuerromanen das Folterinstrument der imperialistischen Herrschaft gegen die indigenen Rebellen. Man hängte Aufrührer, Volkshelden; Menschen, deren Tod ausgestellt werden soll, um die Sanktion ins öffentliche Bewusstsein zu hämmern. Dass die männlichen Zeugen der Hinrichtung, zugleich selbsternannte Richter und Henker, selbst sterben, gerät im nihilistischen Kosmos dieses Films fast schon zu einem Moment der Hoffnung. Zugleich bringt diese höchst ambivalente Einstellung etwas auf den Punkt, das zentral im Westerngenre und im Subgenre des Buddy Movies steht, aber so offen und übereindeutig nie ausgestellt werden durfte: der (selbst dem Tod geweihte) Männerbund konstituiert sich allem voran aus der Vernichtung der Frau. Das mag man widerlich finden, es zerrt aber auch eine verdeckte Wahrheit des Kinos ins Licht.
Hier und hier gibt es einen weiteren Text zu ‚The Hateful Eight‘.