Zum Genrefilm hat Hollyood schon lange ein gestörtes Verhältnis. Das musste Ende der Fünfzigerjahre auch Orson Welles erfahren, dessen Noir-Klassiker “Touch of Evil” von Universal derart konfektioniert wurde, dass es fast vierzig Jahre dauern sollte, bis der Film erstmals in einer Fassung zu sehen war, die zumindest annähernd Welles’ Vorstellung entsprochen haben muss. Dessen 58-seitiger Bittbrief an die Universal-Chefetage ist bis heute eines der leidenschaftlichsten Dokumente jener Verbundenheit, die selbst die größten Regisseure für ihre Filmgenres gehegt haben. In Hollywood aber hatte sich spätestens mit dem Ende des Studiosystems die Meinung durchgesetzt, dass Genrekino automatisch mindere Qualität bedeutete. Die Unterscheidung zwischen A- und B-Film war nicht länger budgetabhängig, sondern nur noch eine Frage von Form und Inhalten. Bestimmte Themen und Geschichten blieben danach in Hollywood auf Jahre unangetastet. In den Siebzigerjahren war Roger Corman einer der wenigen Produzenten, der weiter reine Genrefilme finanzierte, während die ‘jungen Wilden’ New Hollywoods die klassischen Genres gleich reihenweise demontierten. Inzwischen hat das multifunktionale Prinzip ‘Blockbuster’ die Idee des Genrefilms weitgehend aus dem Mainstreamkino verdrängt; markttechnisch erfüllt er lediglich noch die Anforderungen eines Nischenprodukts.
Man kann unter diesen Umständen David Cronenberg gar nicht genug würdigen. Kein anderer Regisseur arbeitet in den letzten zwanzig Jahren erfolgreicher daran, das kommerzielle Kino mit den Methoden des Genrekinos zu unterwandern. Mit “Die Fliege” (1986), dem Remake eines ausgesprochenen B-Films, gelang es Cronenberg erstmals, den psychotronischen Body-Horror seiner frühen Arbeiten (die explodierenden Köpfe aus “Scanners”, der New Media Splatter aus “Videodrome” oder die vulgofreudianischen Kreaturen in “Die Brut”) in den Konventionen des Mainstreamkinos aufgehen zu lassen, ohne seine unverkennbare Handschrift zu opfern. Im Gegenteil scheint es, als würden Cronenbergs filmische Motive erst unter den Bedingungen der Kulturindustrie ihre ganze subversive Kraft entfalten. Dabei haben Genres und Massengeschmack Cronenberg nie sonderlich interessiert. Stattdessen schuf er über die Jahre ein Gesamtwerk, das sich nicht in bloße Gegensätze auflösen ließ und trotzdem eine im Mainstreamkino einzigartige thematische Dichte und Geschlossenheit entwickelte. Wie ein Chirurg arbeitet Cronenberg mit den Gewalt- und Blutbildern aus der Populärkultur: Er legt die fragile Verfasstheit des menschlichen Körpers schonungslos offen, behält aber stets einen kühlen Kopf.
Auch Cronenbergs neuer Film “Tödliche Versprechen” strahlt wieder diese klinische Coolness aus, die viel eher zu einem Horrorfilm als zu einem Thriller passt, der im Londoner Milieu der russichen Mafia Vory v Zakon spielt. Der Trick geht wie schon in seinem letzten Film “A History of Violence” auf Kosten der Zuschauer, die lange in dem Glauben gelassen werden, in einem klassischen Gangsterfilm zu sitzen. Aber Krimis und die Strukturen des organisierten Verbrechens reizten ihn nicht so sehr wie Menschen, die sich in einem Zustand ständiger Grenzüberschreitung befinden, hat Cronenberg in einem Interview gesagt. Der Mafia-Handlanger Nikolai, gespielt von Viggo Mortensen, ist so ein Mensch. Während seiner Aufnahmezeremonie in den Kreis der Captains erklärt er den Clanchefs ohne eine Miene zu verziehen, dass er längst tot sei und nur noch in der ‚Zone’ lebe.
Die ‚Zone’ ist ein wiederkehrendes Konzept in den Filmen Cronenbergs. Sie markiert den Übergang der Physis ins Metaphysische; der Ort, an dem Cronenbergs Protagonisten während ihrer Drogentrips materialisieren („The Naked Lunch“) oder von Todesvisionen heimgesucht werden („The Dead Zone“). Für die Hebamme Anna (Naomi Watts) ist diese ‚Zone’ ein russisches Restaurant im Herzen von London, durch das sie auf ihrer Suche nach dem Vater eines Säuglings die Unterwelt der Vory v Zakon betritt. Hier herrscht der Familienpatriarch Semyon (Armin Müller-Stahl) über ein Clanwesen, in dem Mütterchen Russland und die Moderne eine bizarre Koexistenz führen. Peter Suschitzky, Cronenbergs Vertrauensmann hinter der Kamera, belässt diese Welt in bedrohlicher Dunkelheit, als sei sie kein realer Ort, sondern ein Geisteszustand. Tatsächlich hat Semyons Sohn Kirill (Vincent Cassel) nicht alle Tassen im Schrank; der mysteriöse Nikolai ist permanent damit beschäftigt, diese tickende Zeitbombe unter Kontrolle zu bringen.
Die wichtigste Lektion, die Cronenberg vom Genrekino gelernt hat, ist erzählerische Ökonomie. “Tödliche Versprechen” ist Muskeln ohne ein Gramm Fett zuviel – so wie der Körper von Mortensen, der sich in der besten Szene des Films nackt und unbewaffnet gegen zwei Killer zur Wehr setzen muss. Der spektakuläre Sauna-Kampf wird bald schon in Cronenbergs Bildergalerie eingehen, nicht nur weil er sich bislang weniger durch sorgfältige Action-Choreografien hervorgetan hat. In dieser Szene verschmelzen auch, losgelöst von der reinen Action, wiederkehrende Motive seiner Filme zu einem kaltblütigen Todesballett: der Körper als Fetisch, Schneidewerkzeuge (die des Schlachters diesmal, keine chirurgischen), Nikolais Mafia-Tattoos als physische Überformung, ein Tribut seiner mentalen Verhaftung in der ‘Zone’ (das ‘Neue Fleisch’), und der geschundene Körper als extremster Ausdruck seiner Vergänglichkeit – einem der beiden Killer rammt Nikolai abschließend ein Messer ins Auge.
Cronenberg, der Zeremonienmeister der Transgression, hat mit “A History of Violence” und “Tödliche Versprechen” klare, einleuchtende Formen für die multiple Körperpolitik seiner frühen Filme gefunden. Cronenberg-Fans mag das enttäuschen, aber in ihren Grundstrukturen unterscheiden sich Snuffporno-Piratenszene („Videodrome“), Car Crash-Subkultur („Crash“) und Mobster-Unterwelt nur marginal. Was sich gewandelt hat, ist Cronenbergs Gewalt-Begriff: weg vom Metaphorisch-Blumig-Schmadderigen hin zu einer nüchternen Schilderung der Gewaltpotentiale des Körpers und deren Folgen. Vom Exzesshaften (Amputationskult, Metamorphosen) seiner frühen Filme ist in “Tödliche Versprechen” nichts geblieben. In den beiläufigen Einstellungen auf Blutbäder hat der Chirurg Cronenberg auch formal die Oberhand gewonnen. Eine Szene zeigt Mortensen beim routinierten Zerlegen einer Leiche, und fast will man da Cronenberg selbst erkennen, der sich genüsslich die Zigarette auf der Zunge ausdrückt, bevor er sich an die Arbeit macht. Gewalt ist in “Tödliche Versprechen” kein abstraktes Konzept mehr. Sie ist die unmittelbarste Form von Kommunikation zwischen zwei Körpern.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 01/2008