Eine merkwürdige Expedition, ja eine geradezu mythische Prozession im Herzen Afrikas vollzieht sich im Prolog von Miguel Gomes‘ neuem Film „Tabu“. Ein furchtloser Entdecker, von dem der Off-Erzähler sagt, er sei traurig, will nach dem Tod seiner geliebten Frau ans Ende der Welt fliehen, weil er ihren Verlust nicht verwinden kann. Die Bilder, die seinen Weg durch den Dschungel zeigen, sind schwarzweiß und werden von einem Jazz-Piano begleitet. Ein Hauch von Exotik und von fernen Abenteuern liegt über der Szenerie, die aus einem alten Stummfilm stammen könnte oder zumindest visuell dessen Geist beschwört; was im Verbund mit dem fabelhaften Erzähler wiederum dazu führt, dass sich in die tragische Geschichte auch ein leiser Humor mischt. „Deinem Herzen kannst du nicht entfliehen“, erkennt der Held und steigert dadurch noch seine Todessehnsucht. Bis er sich schließlich in einer Verzweiflungstat unter den Augen der Eingeborenen einem Krokodil zum Fraß vorwirft, von dem es heißt, dass es die Traurigkeit des Getöteten in sich aufnehme.
Wahrheit und Legende, Imagination und Wirklichkeit liegen in den Filmen des 1972 in Lissabon geborenen Regisseurs Miguel Gomes nahe beieinander. Mit unbändiger Fabulierlust erzählt er seine mäandernden, abschweifenden und sich immer weiter verzweigenden Geschichten, deren Zusammenhang oft unklar bleibt und deren lose Enden sich mitunter im Unbestimmten verlieren. In ihnen vermischen sich auf ebenso nachdenkliche wie humorvolle Weise Verrücktes und Absurdes, Alltägliches und Menschliches. Dabei arbeitet der Filmemacher immer wieder ganz ungezwungen und selbstverständlich mit ästhetischen Irritationen und narrativen Brüchen, mit Andeutungen und filmgeschichtlichen Referenzen. In „Tabu“ etwa zitiert er den gleichnamigen, thematisch verwandten Film von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahre 1931, indem er dessen Kapitelüberschriften in umgekehrter Reihenfolge für seinen eigenen Film übernimmt.
Der mit „Das verlorene Paradies“ betitelte erste Teil spielt im Lissabon der Gegenwart zwischen den Jahren 2010 und 2011 und verknüpft diesen Ort mit einer Erinnerung, die den Verlust der Unschuld auf eine noch unbekannte Vorgeschichte bezieht. Die katholische Friedensaktivistin Pilar (Teresa Madruga), rein, sanftmütig und hilfsbereit, figuriert darin als Heilige und gute Seele mit einem offenen Ohr und Herzen für die Sorgen und Nöte der anderen. Als Integrationsfigur wird sie zum Katalysator für deren Sehnsucht nach Vergebung und Erlösung. Vor allem die alte, resolute Nachbarin Aurora mit ihren scheinbar wahnhaften Geschichten beschäftigt ihr Nachdenken und Beten. Als Aurora (Laura Soveral) plötzlich stirbt, wechselt der Film den Erzählmodus und wird im zweiten, mit „Paradies“ betitelten Teil zu einer poetischen Bildergeschichte, über die sich die Stimme von Auroras früherem Geliebten Gian Luca Ventura (Henrique Espírito Santo) legt.
Dieser erzählt von jener unsterblichen und zugleich „verbrecherischen“ Liebe, die er als junger Mann (Carloto Cotta) Jahrzehnte zuvor „auf einer Farm in Afrika“ am Fuße des mythischen Monte Tabu mit der damals frisch verheirateten und schwangeren Aurora (Ana Moreira) erlebt hat: „Ich verinnerlichte Aurora als absolute, allumfassende Realität.“ Doch die Schatten der Gegenwart liegen von Anfang an über dieser verbotenen Liebe der Vergangenheit. Und auch der Kolonialismus, eher als atmosphärische Störung und visuelle Unterströmung präsent, liegt in den letzten Zügen. Was hier in wortlosen Blicken, unbestimmten Gefühlen von Verlust, Schuld und Trauer und fernen, verblichenen Erinnerungen erzählt wird, könnte auch der Imagination von Venturas Zuhörerin Pilar (oder auch der Phantasie des Kinopublikums) entstammen. Miguel Gomes sagt: „‘Tabu‘ ist ein Film über die Vergänglichkeit, darüber, dass Dinge verschwinden und nur noch als Erinnerung, als Phantasmagorie, als Bilder in unserem Kopf existieren – oder eben als Film.“