Als die angehenden Filmstudenten Lisa Sperling und Florian Kläger im Januar 2010 begannen, mit ausgeliehenen Filmkameras die wachsenden Proteste gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ zu filmen, wollten sie zunächst einmal die Stimmungslage der Demonstranten einfangen. Heterogen zusammengesetzt und zugleich in der Mitte der Gesellschaft geerdet, überraschten die Protagonisten dieser bunten Bewegung nicht nur durch ihren Zusammenhalt und zunehmende Stärke, sondern auch durch ihre Toleranz und Offenheit gegenüber ideologisch Unverdächtigen. Mit dem Wahlspruch „Oben bleiben!“ demonstrierten hier empörte Bürger unterschiedlicher Couleur gegen den Bau eines unterirdischen Durchgangsbahnhofes und damit für den Erhalt des alten Kopfbahnhofs, vor allem aber sicht- und hörbar für mehr Demokratie. Der Film „Stuttgart 21 – Denk mal!“ ist insofern vor allem ein Dokument über kritische Bürgerbeteiligung und ihr aufklärerische Funktion.
Dieser Perspektive ist die politische Einseitigkeit und unverhohlene Parteinahme der beiden jungen Filmemacher geschuldet, denen es eben nicht um Analyse geht, sondern um einfühlendes Verstehen. Die kurzen, aber prägnanten Statements der verantwortlichen Politiker und Funktionäre sind deshalb vor allem Ausdruck einer Arroganz der Macht, die das demokratische Engagement und Durchhaltevermögen der immer größer werdenden Protest-Bewegung kontrastiert. In relativ ausführlichen Interviews rekonstruieren einzelne Beteiligte die Geschichte des Protests, der für viele offensichtlich auch ein politisches Erweckungserlebnis darstellt. Natürlich geht es dabei auch um Überlegungen zur städtischen Topographie, geologischen Unwägbarkeiten, architektur- und naturgeschichtlichen „Denkmälern“, um geldverschwenderische „Kapitalinteressen“ und um die Verfilzung von Politik und Wirtschaft. Doch durch diese Sachthemen hindurch ist es immer wieder die Ignoranz der Politiker gegenüber dem Prozess der demokratischen Willensbildung, die viele Bürger im Widerstand vereint.
Neben dem kulturschändlichen Abriss des Bahnhof-Nordflügels im August 2010, den der Film im Zeitraffer vergegenwärtigt, sind es vor allem die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Stuttgarter Schlossgarten am 30. September des gleichen Jahres, die zu einer Eskalation des Protests führen. Mit Wut, Sprachlosigkeit und Ohnmacht beschreiben beteiligte Demonstranten ihre Gefühle angesichts eines unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes, der sich mit massiver Gewalt gegen unbescholtene, friedfertige Protestierer richtet und der später von Innenminister Heribert Rech auf empörende Weise bagatellisiert und gerechtfertigt wird. In langen, ungeschnittenen Einstellungen dokumentieren Sperling und Kläger diese Übergriffe im Vorfeld der Baumfällarbeiten und liefern damit ein ebenso intensives wie anschauliches Lehrstück über Demokratie und über das schwierige Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern.