Wenn in einer der ersten Einstellungen von Hirokazu Kore-edas keineswegs neuestem Film “Still Walking” ein Zug durch das Bild fährt, versteht man gleich: Hier ist Ozu nicht fern, denn in niemandes Filmen, Tony Scott nicht ausgenommen, fahren so viele Züge durchs Bild wie durch die Ozus. Rot ist der Zug und darin sitzt ein Mann, Ryo, der mit seiner Frau Yukari und seinem Sohn zu seinen Eltern unterwegs ist. Die Frau hat ihn nach dem Tod ihres ersten Mannes geheiratet, der Sohn ist nicht seiner und mit dieser Art von Patchwork-Verhältnissen sind die Eltern, das erfährt man wenig später, alles andere als einverstanden. Sie haben sehr konservative Ansichten, äußern sie gerne rücksichtslos und leben in einem Städtchen am Meer nicht fern von Yokohama. Das Haus liegt auf einem Hügel, man muss viele Stufen die Treppen hinaufgehen aus der Stadt, was alle im Film recht häufig und mühevoll tun. Nichts fällt ganz leicht in “Still Walking”.
Die Reise hat einen traurigen Anlass. Alljährlich begeht man den Todestag des ältesten Sohns bzw. Bruders. Ryo hat eine Schwester, die mit ihrem Ehemann und der Tochter ebenfalls anwesend ist. Der älteste Sohn starb als Held: Er hat einen Jugendlichen vor dem Tod beim Ertrinken gerettet. Zu den ausgesucht finsteren Gemeinheiten, auf die sich die Eltern, nun um die Siebzig, bestens verstehen, gehört es, den nun jungen Mann, der dem Sohn sein Leben verdankt wie dieser jenem den Tod, am Todestag zu sich zu laden. Er ist ein Loser und die Familie macht fast keinen Hehl daraus, dass sie ihn verachten, dass er nach ihrer Ansicht den Tod des Edleren mitnichten wert war. Auch Ryo, aus dessen Perspektive der Film mehr oder minder erzählt ist, bleibt unter den Erwartungen seiner Eltern, ist Kunstrestaurator und derzeit arbeitslos, lügt aber seinen Eltern aus Furcht vor ihrer Verachtung etwas von Chagall oder van Gogh vor.
Nur zum Schein ist “Still Walking” ein sanfter Film, das verbindet ihn zunächst mit dem oft schneidend scharfen Ozu. Die Stiche und Verletzungen, die man sich in der Familie mal mit offenem Visier, mal hinter des anderen Rücken, zuzufügen versteht, zeigt er schonungslos. Woran es allerdings fehlt, ist Ozus – oder überhaupt: – inszenatorische Stringenz. Abgesehen vom ausgesucht präzise, fast über-kadrierten “Maboroshi”, bevorzugt Kore-eda lässige Formen, ordnet das Geschehen mit nach Möglichkeit nicht spürbarer Hand. Es ist bei ihm Luft zwischen den Worten, zwischen den Bildern, manchmal etwas zu viel.
Und in “Still Walking” eher zum Schein. Es handelt sich nämlich um einen sehr genau beobachtenden und vor allem um einen Geste für Geste und Wort für Wort und Szene für Szene sehr präzise gemachten und in seinen Untermarkierungen schon wieder überdeutlichen Film. Auf das Geheimnis um den älteren Sohn steuert die Geschichte mit dramaturgischer Ausgetüfteltheit ebenso zu wie bestimmte Motive sehr gezielt angespielt und wieder aufgegriffen und dann zu einem runden Abschluss gebracht werden; die Frage des Einzugs der Tochter ins Haus nur zum Beispiel. Auch von den Figuren macht sich das Drehbuch stets einen Begriff, dessen Nähe zum Klischee durch die scheinbare Luftigkeit der Inszenierung verschleiert wird, ohne dass wirklich eine Vertiefung gelingt.
Das arg aufdringliche Flattern eines Schmetterlings als Dingsymbol durch die Kapitel ist darum weniger eine lässliche Übertreibung als der Kern des Problems, das dieser Film, so schön er ist, hat. So präzise und aufmerksam er im Detail gelingt, so zurückgenommen er immer wieder auch ist, so wenig wagt sich Kore-eda zuletzt doch ins Offene. Das Bittersüße seiner Ambivalenzen wird eher ausgestellt, als dass er wirklich darauf vertraute, eine seiner Figuren etwas anderes sein oder werden zu lassen, als das, was er sich, als er sie erfand, zu ihr so gedacht hat. Aus Mangel an ästhetischem Mut läuft “Still Walking” zuletzt auf kaum mehr als die konservative Botschaft hinaus, dass das Leben nunmal so ist, wie es ist. Die Schärfe, den Schmerz, ja, die Verzweiflung, die eine solche Erkenntnis fürs einzelne Leben in Ozus Filmen stets bedeutet, ersetzt Kore-eda am enttäuschenden Ende durch einen allzu glatten Schluss aus dem Off und eine Versöhnlichkeit, die das zuvor Gezeigte kaum nahelegt.