Gleich zu Beginn dieser Tragikomödie wird das sehr umfangreiche Manuskript einer Magisterarbeit, der man offenbar keine Träne nachweinen muss, aus dem Fenster einer Duisburger Hochhauswohnung geradezu ejakuliert und fasst ein paar Themen von „Renn, wenn du kannst“ in ein kräftiges Bild: Erwachsenwerden, Selbstentfremdung, Behinderung und Sexualität. Und so großzügig, wie sich die Blätter des Manuskripts über das Stadtgebiet von Duisburg verteilen, so großzügig geht der nun folgende Film mit seinen zumeist gelungenen Einfällen und seinem forcierten Sprachwitz um.
Benjamin, dem hier die Magisterarbeit abhanden kommt, ist kein besonders einnehmender Zeitgenosse. Seit einem Autounfall, der ihn vor sieben Jahren querschnittsgelähmt zum Rolli-Fahrer machte und seiner Freundin das Leben kostete, lebt er seine Misanthropie mit Wonne und auf das Unterhaltsamste aus, piesackt seine Zivildienstleistenden, seine Mutter und ist auch sonst nicht auf den Mund gefallen. Robert Gwisdek liefert hier nach „13 Semester“ bereits die zweite brillante Performance binnen weniger Monate ab und ist nur manchmal etwas zu grob in der Wahl seiner Mittel. Seit einiger Zeit beobachtet Benjamin Annika (Anna Brüggemann, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat), die Cellistin, die zuverlässig pünktlich an seinem Hochhaus vorbeifährt. Christian (Jacob Matschenz), mit dem sie kollidiert, ist Benjamins neuer Zivi, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Die menage a trios, die aus diesen unverhofften Begegnungen resultiert, bewegt sich in der Folge auf halber Strecke zwischen „Jules und Jim“ und „Absolute Giganten“. Sprich: Annika, hochbegabt, aber als Musikerin von Versagensängsten geplagt, ist eher der Buddy als der Lover. Christian, für den der Zivildienst eine Zwischenstation auf dem Weg zum Medizinstudium ist, ist zu sorglos und selbstbewusst, um sich von Benjamin auf dessen übliche Art „ankacken“ zu lassen.
Nachdem sich der Film eine kurze Zeit an Benjamins rabenschwarzem Blick aufs Leben und die Menschen gelabt hat, schwungvoll Szene auf Szene mit funkelnden und teilweise überraschenden Dialogpointen hat folgen lassen, wird es Zeit für ein wenig Tiefgang. Während Benjamin früh konstatiert, dass das Leben die kleine Gruppe in alle Himmelsrichtungen zerstreuen wird, träumt man sich dennoch etwas Stillstand herbei, um in dieser Konstellation seine Sehnsüchte ausleben zu können – und sei es nur für eine kurze Zeit. Dass in Gemeinschaft mit Benjamin keine Normalität zu haben ist, dass man sich keinen Illusionen hingeben sollte, dass seine Behinderung nicht reversibel ist, dass jeder im Umgang mit Behinderungen lernen muss, wo Tabus gebrochen werden müssen oder können und dass es dafür keine allgemein verbindlichen Regeln gibt – all diese individuellen Lernprozesse zeigt „Renn, wenn du kannst“ mit viel Humor, aber auch mit Gespür für die Realität und die Verzweiflung, die sich hinter Benjamins Zynismus verbirgt.
Nach „Neun Szenen“ hat der junge Filmemacher Dietrich Brüggemann mit „Renn, wenn du kannst“ bereits zum zweiten Mal den Publikumspreis beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen gewonnen – und „Renn, wenn du kannst“ ist erst sein zweiter Spielfilm. Im Gespräch hat er entschieden verneint, dass es sich bei „Renn, wenn du kannst“ um einen »Behindertenfilm« handele, vielmehr beschreibe der Film „eine Konstellation, die auch für Menschen ohne sichtbare Behinderung interessant“ sei. Benjamin sei eben kein typischer Behinderter, kein Stellvertreter einer besonderen Gattung Mensch, sondern „Renn, wenn du kannst“ erzähle eine Geschichte, in der ein Beteiligter eben im Rollstuhl sitze. Es geht hier vielmehr um das mitunter schmerzhafte Synchronisieren des eigenen Selbstverständnisses mit den Möglichkeiten der Realität und den pragmatischen Umgang mit eigenen Defiziten. Das mag in Benjamins Fall besonders schmerzhaft sein, ist aber durchaus verallgemeinerbar, wie Brüggemann ausführt: „Wir leben in einer Zeit, in der wir umgeben sind von gerne auch digital hergestellten Bildern des Ideals vom perfekten Körper, dem wir alle nicht genügen. Ein Mensch mit einer Behinderung spürt diese Diskrepanz vielleicht nur in der verschärften Form.“
Wie dem auch sei: Am Schluss, als alle ihre Pläne geschmiedet haben, sitzt das Trio noch einmal auf Benjamins Balkon und träumt davon, dass die Klimakatastrophe ihnen weitere Entscheidungen abnimmt. Darauf, der Film hat es gezeigt, sollte man nicht bauen.