Im Kriegsfilm wird das Leid entweder pathetisch, also schicksalhaft, oder melodramatisch, einem übergeordneten Sinn folgend, arrangiert. Bei letzterem neigen die Rezipienten voreilig dazu, dass Genre mit einem Anti- zu klassifizieren. Das dazugehörige Schema hat sich bereits frühzeitig im Hollywoodkino etabliert: Ein politisch meist naiver Mensch wird seiner gewohnten Umgebung entrissen, erfährt beim Militär eine Initiation, wird auf dem Schlachtfeld seiner finalen Prüfung unterzogen und kehrt geläutert wie gereift in seine alte Heimat zurück – sofern er den Kampfschauplatz lebend verlässt. In den besten Werken entspricht diese Entwicklung einer umgekehrten Individuation: Aus einer allenfalls arglosen Skepsis beim Eintritt in die Institution Armee wächst später resignierte Verzweiflung, aus Autoritätshörigkeit entsteht eine fast manische Todessehnsucht. Beide Varianten aber benötigen das Subjekt, und sei es bloß, um an ihm einen tragischen Verfall zu skizzieren.
In seiner 1975 fertiggestellten D-Day-Kriegsgeschichte „Overlord' greift Stuart Cooper auf eine ähnliche Dramaturgie zurück, nur geht er dabei sehr viel klüger vor als viele seiner Regiekollegen. Schon deshalb verwundert es, dass dem Werk über Jahrzehnte der Eintritt ins Pantheon der Klassiker seiner Zunft verwehrt blieb. Das hängt sicher damit zusammen, dass es, trotz einer Auszeichnung mit dem Silbernen Bären auf der Berlinale 1975, nie einen Start in den US-Kinos erhielt – zu gegenwärtig mag der Vietnamkrieg gewesen sein, als dass sich eine weitere grundsätzliche Kritik am Wesen des Krieges zu diesem Zeitpunkt ausgezahlt hätte. Seit einigen Jahren nun wird der Film dank eines intensiven Festivaleinsatzes als unterschlagenes Meisterwerk der Filmgeschichte neu entdeckt – völlig zu Recht.
Der Plot: 1944 wird der junge Engländer Tom Beddows – Typus: bürgerliches Elternhaus, recht belesen und sehr schüchtern – für den Kampf gegen Deutschland eingezogen. Nach dem brutalen Drill, der offenkundig die Eliminierung jedweder Persönlichkeitsstruktur zum Ziel hat und die ausnahmslos knabenhaften Gesichter zu todesverachtenden Fratzen verwandeln will, folgt schließlich am 6 Juni 1944 der sogenannte Overlord-Einsatz – das Codewort für die Invasion der alliierten Truppen in der Normandie. Die Zeit dazwischen ist, teils in Rückblenden, gespickt mit zaghaften Versuchen, Freunde zu finden, und einer zurückhaltenden Liaison nach einem Tanzabend. Was uns Toms Mimik während dieses Prozesses nicht verraten will, erfahren wir aus den Briefen an seine Eltern. Einmal heißt es darin erschreckend lakonisch: 'Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich fühle es, wie man eine Erkältung kommen fühlt.' Hier ist bereits absehbar, dass er recht behalten soll.
Wem nun dieses Setting bekannt vorkommt, liegt vollkommen richtig: 1987 entwarf Stanley Kubrick mit „Full Metal Jacket' ein ähnliches Gerüst für eine Vietnamkriegsgeschichte. Zufall ist das nicht. Kubrick war ein großer Bewunderer von Overlord und hatte außerdem zuvor bereits in „A Clockwork Orange' (1971) und „Barry Lyndon' (1975) mit Kameramann John Alcott zusammengearbeitet (und allein bestimmte Methoden der Beleuchtung sind frappierend). Beide Kriegsfilme sind durch die Abwesenheit des heroischen Subjekts gekennzeichnet; es ist die Maschinerie, die den Menschen formt, nicht umgekehrt.
Der Weg dorthin könnte indes nicht unterschiedlicher sein: Kubrick zerlegt die Entindividualisierung der Soldaten spitzfindig in die einzelnen institutionellen Schritte und steuert auf ein Antifinale zu, in dem sich die Initiation in einem surrealen, strategisch völlig unbedeutenden Kampf beweist – die Schlachtinszenierung bildet das Zentrum. Cooper hingegen rückt die Schlacht nur mittels der Montage in den Mittelpunkt, der Unterschied aber bemisst sich am Material. Denn – daher rührt auch das große gegenwärtige Interesse an dem Film – bei sämtlichen Schlachtaufnahmen handelt es sich um Archivmaterial des Imperial War Museums, und das macht immerhin ein gutes Drittel des Films aus. Hieran wird das narrative Prinzip deutlich: Zwar werden wir ausgiebig Zeugen der Initiation Toms, aber sie ist nicht mehr Teil seiner kathartischen Entwicklung, sondern bereits von Beginn an der Maschinerie des Krieges untergeordnet. Die wiederum hat eine krude Eigendynamik. Tatsächlich braucht es keinen Menschen, der die Maschinerie steuert, er ist ihr, seiner Handlungsfreiheit beraubt, ausgeliefert – und dies in teils pittoresk-ambivalenten Bildern. Das gilt für die stetigen Bombenabwürfe auf scheinbar menschenleere Städte, für die Luftgefechte, in denen die Maschinen statt ihrer Piloten gegeneinander anzutreten scheinen und insbesondere für die Strandinvasion, auf die Toms groteske Ausbildung hinausläuft. Dann prescht monströses Räderwerk durch das Wasser über den Sand, raketenbetriebene Kreisel fegen Stacheldraht beiseite, bohren sich als Schutzwall in den Boden und sind offensichtlich überhaupt nicht zu kontrollieren – eine entfesselte Maschinerie, mehr Chaos als Präzision versprechend.
In diesen Bildern und dem Wechsel aus Fiktion und Dokumentation ist das Subjekt lediglich eine Randerscheinung: Dass er den Krieg nicht überleben wird, davon geht Tom mit stoischer Selbstverständlichkeit aus, Heroismus ist nicht mal mehr als Illusion existent. Letztlich sind es die Archivbilder der Zerstörung und entfesselten Maschinen, die sogar seine Biographie innerhalb der Erzählung unbedeutend werden lassen: Was zum Höhepunkt drängt, endet noch bevor es beginnt, in Toms regelrecht unspektakulärem Tod. Selten wurde diese Art unausweichliche Verdinglichung in drastischere Bilder gefasst, die keine Menschen mehr beherbergen. Sie lösen als Zeichen das ein, was die Soldatenausbildung psychologisch anstrebt: den Soldaten erst zum Körper und danach zum aufgebrauchten Humanmaterial zu degradieren – in einem Stahlgewitter, das dennoch nie vergessen lässt, dass es sich aus menschgemachten Absichten nährt.
Ein letzter Satz zur DVD: Mit dieser Veröffentlichung untermauert das engagierte Bildstörung-Label in puncto Programmauswahl und Ausstattung ein weiteres Mal seinen Ruf als eines der besten im deutschsprachigen Bereich – einer der wenigen Anbieter, dessen Filmeditionen blind vertraut werden darf.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2010