„Das Einzige, was ich jetzt noch für dich tun kann, ist nichts mehr für dich tun”, sagt der Vater (Ulrich Noethen) zum Sohn. Niko Fischer (Tom Schilling) wirkt wie ein Verlorener in einem provisorischen Leben. Mit Ende zwanzig, nach abgebrochenem Jura-Studium, ohne Job und ohne Geld hat er weder Plan noch Ziel. Seine Wohnung ist leer, die Umzugskartons sind noch immer nicht ausgepackt, die Briefpost bleibt weitgehend geschlossen. Überhaupt fungieren Räume nur als Zwischen- und Durchgangsstationen in einem ortlosen, transitorischen Dasein. Niko driftet durch die Stadt, er ist unterwegs, ohne getrieben zu sein. Als melancholischer Flaneur und „einsamer Wolf“ imitiert er die Gesten von Robert de Niros „Taxi Driver“ und von James Dean in „Giganten“. Aber der sympathische, introvertierte und leicht schüchterne Mann ist kein Rebell, auch wenn er unangepasst wirkt und in seinen Beziehungen mitunter unverbindlich bleibt. Vielmehr ist er sensibel und durchlässig für die Sorgen und Nöte der anderen.
Einen langen Tag und eine lange Nacht lang bewegt sich der traurige Held von Jan Ole Gersters bemerkenswertem, in Schwarzweiß gedrehtem Debütfilm „Oh Boy“ durch die Stadt Berlin. Aus den zahlreichen Begegnungen, die er dabei macht, resultiert die episodische Struktur des Films und die Verdichtung eines großstädtischen Lebensgefühls. Doch Niko absorbiert nicht einfach nur Erfahrungen, noch funktioniert er primär als Katalysator, sondern sein Charakter gewinnt Konturen durch seine Reaktionen auf andere. Auch wenn sich die Welt gegen ihn verschworen zu haben scheint, ablesbar an seinen mitunter komischen Konfrontationen mit behördlichen Autoritäten, bockigen Automaten und übergriffigem Machismo, ist Niko nicht einfach ein typischer Verlierer. Zwar hat sein Scheitern, das auch eine Distanz und ein Innehalten beschreibt, eine zumindest angedeutete Geschichte, doch es erschöpft sich nicht in der modischen Darstellung dessen, was man heute gern als Prekariat bezeichnet.
Stattdessen erzählt Jan Ole Gerster einfühlsam und glaubwürdig von einem jungen Mann, der entgegen dem Anschein offen und Anteil nehmend genug ist, um den Geschichten der Menschen, die ihm begegnen, einen Resonanzraum zu verschaffen. Persönliche Dramen, aber auch die große Geschichte werden so vernehmbar. Die Zeit erscheint gedehnt, die Schicksale überlagern sich und Nikos vermeintlicher Stillstand, den der Regisseur in stimmungsvollen, von einem jazzigen Soundtrack unterlegten Bildern der Stadt widerspiegelt, wird zu einer Zeit der Reflexion. Diese ist noch nicht abgeschlossen, befindet sich vielmehr im Fluss nahezu unmerklicher Veränderungen. Er habe die letzten zwei Jahre nachgedacht, erklärt Niko seinem verständnislosen Vater. Seine mutmaßliche Stagnation erzeugt fortgesetzt innere und äußere Bewegung. Einmal, in der Wohnung eines Dealers, wo Niko auf einen Freund wartet, begegnet er einer herzensguten alten Dame, die ihn einlädt, sich in ihrem bequemen Sessel auszuruhen. Kurz darauf, für einen langen, schläfrigen Moment in Liegeposition, in dem alle Verlorenheit von ihm abzufallen scheint, erlebt er plötzlich und unerwartet Nähe und Geborgenheit.