Als „urbane Fabel“ über Einsamkeit in der Großstadt und die Neurosen ihrer Bewohner hat der argentinische Regisseur Gustavo Taretto seinen Film „Medianeras“ bezeichnet. Demgemäß eröffnet er sein überraschend stilsicheres Langfilm-Debüt mit einer Montage beeindruckender Stadtansichten von Buenos Aires, die eine chaotische „Bauwüste“ voller ästhetischer Brüche und architektonischer Widersprüche zwischen Tradition und Moderne zeigen. Hier drängen sich Wohnsilos an alte Villen, hier wird hemmungslos abgerissen und umgebaut. Und wo Lücken in den Häuserzeilen entstehen, werden jene, oft mit Kunst oder Werbung verzierten Trennwände und Brandmauern sichtbar, von denen der Filmtitel spricht. Tarettos Reflexion über die moderne Stadt setzt dabei die Planungs- und Bausünden einer menschenfeindlichen Architektur in eine direkte Beziehung zu den seelischen Leiden der Stadtbewohner. Diese werden zum Abbild der Stadt, die umgekehrt ständig von ihnen transformiert wird.
„Medianeras“ meint aber auch das Dazwischenliegende, das zugleich trennt und verbindet. In Gustavo Tarettos ebenso origineller wie witziger Versuchsanordnung wird das isolierte Leben in der Schachtel-Wohnung deshalb auch zu einer sehr zeitgemäßen Reflexion über moderne Kommunikationsmittel und virtuelle Beziehungen. Der 29 Jahre alte Webdesigner Martín (Javier Drolas), der sich in seinem kleinen Ein-Zimmer-Appartement komplett abgeschottet hat, fast nur noch Online kommuniziert und von diversen Phobien geplagt wird, drückt sein Dilemma in einem der vielen Off-Monologe so aus: „Das Internet bringt mich der Welt näher, aber es entfernt mich vom Leben.“ Sein weibliches Pendant heißt Mariana (Pilar López de Ayala), arbeitet als Schaufensterdekorateurin und wohnt im Häuserblock gegenüber. „Wo ist Walter?“ („Wally In The City“) lautet der Titel des Wimmelbuches, das sie seit ihrer Kindheit begleitet und das ihre eigene Verlorenheit, aber auch Sehnsucht metaphorisiert: „Wie soll man eine Person finden, von der man nicht weiß, wie sie aussieht?“
Aber „Medianeras“ handelt dadurch auch vom Suchen und Finden der Liebe, von unverhoffter Nähe, zufälligen Begegnungen und von ganz altmodisch romantischer Vorherbestimmung der Liebesuchenden füreinander. So erzählt Taretto die parallelen Leben seiner beiden sympathischen Protagonisten entlang einer Vielzahl von Entsprechungen, die sich in Phobien, Trennungen und Enttäuschungen manifestieren. Auf eine in der Montage enge Verschränkung von Wort und Bild folgen immer wieder längere Passagen, die von emotionalen Stimmungen getragen werden. In ihnen spiegeln sich auch die drei Kapitel des nach Jahreszeiten gegliederten Films, der einen „kurzen Herbst“, einen „langen Winter“ und zuletzt den Beginn des Frühlings als Aufbruch und Ausbruch umfasst: In den Ritzen der Fassaden wuchert unkontrolliert Pflanzengrün; und „Mariana y Martín“ produzieren für YouTube ein Playback-Video zum Soul-Klassiker „Ain’t No Mountain High Enough“ von Marvin Gaye und Tammi Terrell.