Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger

(USA 2012; Regie: Ang Lee)

Die Notwendigkeit des Eskapismus

Es ist eine Crux mit den Literaturverfilmungen. Die einen basieren auf Büchern, die viel zu viel Geschichte haben und rasen mut- und ideenlos durch die äußere Handlung. Die anderen basieren auf Büchern, die gar keine Geschichte haben – Liebesratgebern etwa oder philosophischen Essays –, und müssen sich erst mühsam etwas zum Erzählen ausdenken. Aber was tut man nicht alles, um die vielen Bestsellerleser auch mal zu einem Kinobesuch zu bewegen und die Anhänger des einen bedrohten Mediums mit bewährten Titeln für das andere bedrohte Medium zu gewinnen. Und doch gibt es manchmal Literaturverfilmungen, die neugierig machen, weil die Vorlage sich einerseits für eine visuelle Interpretation geradezu aufdrängt, andererseits die Fallstricke mächtig sind.

Yann Martels Roman „Life of Pi“ erzählt eine ungewöhnliche, gar unglaubliche Abenteuergeschichte auf hoher See. Dass der deutsche Titel eine Pointe vorwegnimmt, die den unvorbereiteten Leser in etwa so schlagartig treffen dürfte wie die vergleichbar katastrophale Kehrtwende in John Irvings „The Hotel New Hampshire“, ist zwar schade, schmälert aber weder Buch- noch Filmgenuss, denn es geht eben um mehr als darum, sich auf hoher See in unerwarteter Gesellschaft gegen widrige Umstände zu bewähren …

„Life of Pi“ erzählt die Geschichte von Pi Patel (verkörpert von Laiendarsteller Suraj Sharma), die dieser in einer Rahmenhandlung als gealterter Mann (dann gespielt von Irrfan Khan) einem Autor (Rafe Spall) erzählt. Der Autor weiß noch nicht, was ihn erwartet, doch er verspricht sich von der angeblich ungewöhnlichen Lebensgeschichte des Fremden Inspiration. Im Roman gibt Yann Martell sich selbst als dieser Autor aus, mit einer deutlichen Verbeugung vor der Postmoderne und/oder Jorge Luis Borges. Die Ich-Erzählung Pis wird im Film wie üblich zur Voiceover, die zwar viel Information transportiert, aber zum Glück nie die visuelle Erzählung ersetzt oder entkräftet – wie sonst allzu oft bei „schwierigen“ Literaturverfilmungen.

„Life of Pi“ ist religiöse Parabel und phantastische Abenteuergeschichte gleichermaßen. Die Erzählung ist ornamental ausgeschmückt und über weite Strecken so unglaubwürdig, dass man sich an die mythendurchtränkte Autobiographie von Alejandro Jodorowsky oder die Lebensgeschichte eines Moersschen Blaubären erinnert fühlt. Pi(scine) Molitor Patel, nach einem Schwimmbad benannt und in seiner Kindheit aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit zu „pissing“ permanent verhöhnt, wächst als Sohn eines Zoodirektors im indischen Pondicherry auf. Dafür, dass er allen Weltreligionen gleichermaßen zugehören will, erntet er Unverständnis. Seine Geschichte aber, so verspricht er, werde helfen, das Wesen Gottes zu verstehen.

Als die Familie mit ihrem Zoo nach Kanada auswandern will und sich samt der Tiere auf einen japanischen Frachter begeben hat, kommt es zum titelgebenden Unglück. Nur Pi, eine Hyäne, ein Orang-Utan und ein schwer verwundetes Zebra gelangen auf ein Rettungsboot. Und Richard Parker, der bengalische Tiger. Recht schnell sind nur noch Pi und der Tiger übrig und verbringen Monate alleine auf hoher See.

Die unglaubliche Geschichte wird von Ang Lee in ein Kino der Schauwerte überführt – spektakulär und wuchtig, voll mit beeindruckend realistischen CGI-Effekten und dennoch durch kräftige Farben überhöht und voller surrealer, pathetisch gesprochen: magischer Momente, in denen sich die Fabulierlust der Vorlage manifestiert. Zugegeben: Ungeduldige Zuschauer könnten so manches vorschnell für Kitsch halten. Doch um diesen Trugschluss aufzuklären, muss man sehr viel über den Film verraten, so dass sich halbwegs Interessierte das Weiterlesen an dieser Stelle schenken und lieber so bald wie möglich ins Kino eilen sollten. Denn wie das Buch hat der Film eine pointierte Struktur, die seiner Ästhetik erst im Rückblick einen Sinn verleiht.

„Life of Pi“ ist nicht einfach ein eskapistischer, womöglich sogar missionarischer Fantasy-Film, sondern ein Film über die Macht und die schiere Notwendigkeit eskapistischer Phantasien. Ganz zum Schluss konfrontiert er Pis bildgewaltige Geschichte mit einer trostlosen Realität – auf filmisch denkbar einfache und eben darum an dieser Stelle beeindruckende Weise. Da genügt ein erschütternder Monolog, der auf Rückblenden und somit Visualisierungen ganz verzichtet, um eine weitere Dimension des Erzählens zu offenbaren: Die wundersame Geschichte vom Jungen, der das Raubtier bändigte, verschleiert eine Wahrheit, deren Abbildung unerträglich wäre. Das mag man als banal abtun, doch wie vollumfänglich eine Erzählung scheitern kann, die echt und wahr und richtig tut, dabei aber mit fehlgeleitetem filmischen Realismus alles falsch macht, wird demnächst das Tsunami-Drama „The Impossible“ zeigen. Hier indes genügt es völlig, in einer statischen Einstellung mit Worten das bisher Gesehene zu revidieren, um zu erschüttern und fassungslos zu machen.

Auch die potentiell prätentiöse Religionsdebatte des Films findet unmittelbar im Anschluss ihre Auflösung in einer unspektakulären Pointe, die sich die Ringparabel zum Vorbild genommen hat und nach derart gewaltigem Anlauf so lapidar wirkt, dass auch Atheisten ihren Spaß haben können.

Ang Lee ist es mit einem Drehbuch von David Magee tatsächlich gelungen, einen schwer zu verfilmenden Roman zu großem Kino zu machen, das gleichsam überwältigend wie bescheiden wirkt und dabei einem klaren Konzept folgt, dem nicht nur am Spektakel gelegen ist. Dass der Film nebenbei das erstaunlichste 3D präsentiert, das bisher in einem Spielfilm zu sehen war – Goblins und Hobbits hin oder her –, ist nicht mehr als ein (äußerst angenehmer) Nebeneffekt.

Benotung des Films :

Louis Vazquez
Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger
(Life of Pi)
USA 2012 - 125 min.
Regie: Ang Lee - Drehbuch: David Magee - Produktion: Ang Lee, Gil Netter, David Womark - Bildgestaltung: Claudio Miranda - Montage: Tim Squyres - Musik: Mychael Danna - Verleih: 20th Century Fox - Besetzung: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Tabu, Rafe Spall, Gérard Depardieu, Adil Hussein, Ayush Tandon, Shravanthi Sainath, Andrea Di Stefano, Vibish Sivakumar
Kinostart (D): 26.12.2012

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0454876/