Das Musical gehört seit geraumer Zeit zu den totgesagten Genres, ähnlich dem Western, und doch erfreut es sich, wann immer ein Lebenszeichen an die Öffentlichkeit dringt, durchaus bester Gesundheit, sei es in seiner klassischen Ausprägung oder in postmodernen, ironischen Formen. Ganz gleich ob „Moulin Rouge“ oder die konservativeren Adaptionen der Andrew Lloyd Webber-Schmachtfetzen „Evita“ oder „Das Phantom der Oper“ – die Filme überzeugten durch ihre hemmungslose Opulenz, die weder vor Kitsch noch Camp zurückschreckte, und die uneingeschränkte Emotionalität der Darstellungen wie auch der Inszenierung. Kurz gesagt: es geht bestenfalls in die Vollen, Pomp and Circumstance, Kostüme, Ausstattung, das ganze Programm.
Bei der Oscar-Verleihung 2011 wurden wir unbewusst Zeuge eines Vorsingens für die lange geplante, immer wieder verschobene Filmadaption des unerhört erfolgreichen Bühnenmusicals „Les Misérables“, als Moderatorin Anne Hathaway ihren Vorgänger Hugh Jackman mit einer parodistischen Version des Stücks „On My Own“ ansang, als der ihre Duettbemühungen schnöde zurückwies. Knapp zwei Jahre später singen und leiden sie schließlich gemeinsam auf der Leinwand und ihre Performances trugen sie auch in diesem Jahr erneut zu den Oscars.
Nachdem in den Achtzigern und Neunzigern bereits Alan Parker und Bruce Beresford für die Verfilmung ins Spiel gebracht wurden, oblag es schließlich Tom Hooper, Regisseur des leidlich überschätzten „The King’s Speech“, die barocke Pracht der Drei-Stunden-Bühnenshow auf die Leinwand zu hieven, und man kann ihm kaum vorwerfen, sich zurückgehalten zu haben. Die Kamera fliegt durch die pompösen Sets, als seien es die Berge von Mittelerde, der Sound dröhnt und tost, als ob er Gefahr liefe, zur zweiten Geige verdonnert zu werden. Diese Befürchtung ist natürlich vollkommen unbegründet, dominieren doch die Songs und Orchestrierungen das Geschehen über die kompletten zweieinhalb Stunden. Alle Darsteller haben nicht nur höchstselbst, sondern auch live am Set gesungen, wie die Produktion nicht ohne Stolz betont. Es wird nicht endgültig zu klären sein, aber vielleicht hat dieser Umstand letztlich auch Anne Hathaway zu ihrer Darbietung beflügelt, die in einer steinerweichenden Version des bitteren Lebensbilanz-Songs „I Dreamed a Dream“ gipfelt, dem uneingeschränkten Herzstück des Films und deutlichsten Empfehlungsschreiben dieser Oscar-Saison. Aber auch Russell Crowe, die ABBA-erprobte Amanda Seyfried und eben Hugh Jackman sind gut bei Stimme und leidenschaftlich bei der Sache – der leicht verstaubte Begriff der Inbrunst drängt sich mehrfach ins Bewusstsein.
Das Elend der literarischen Vorlage von Victor Hugo ist zwar zur pittoresken Pose verkommen und galoppiert schließlich eher als Behauptung durch die akkurat drapierten Szenenbilder, aber die Verve der atemlosen Inszenierung schwemmt selbst ein paar unsaubere Schnitte, lose Enden und Leerstellen in der Dramaturgie mühelos beiseite. Am Ende ist man erschöpft von den überlebensgroßen Gefühlen, von der Wucht und Zartheit der Melodien, vom Geist der Revolution und der Tragik der Figuren. Und es fehlt letztlich lediglich der schwere Samtvorhang, der über das finale Bild sanft zu Boden fällt, statt der schnöden, schlichten Abspanntitel.