Man solle mit niemandem schlafen, der den Film „Gerry“ nicht liebt, riet John Waters, „Elephant“ bekam in Cannes die Goldene Palme und „Last Days“ geisterte seit 2005 von einem großen Festival zum anderen, nur ins deutsche Kino wagte den letzten Teil von Gus Van Sants Tode-Trilogie in kompletten eineinhalb Jahren niemand zu bringen. Das verrät Einiges über den desolaten Zustand hiesiger Filmkultur, aber auch ein wenig darüber, wie es Van Sant mit seinem letzten Film geschafft hat, durch eigene Vorarbeit etablierte Sehgewohnheiten noch einmal zu unterminieren.
Van Sants Jugendporträts „Gerry“ und „Elephant“ waren Meditationen über das Sterben, vielleicht besser: das Nichtlebenkönnen. Die Jugend darin war kein Platzhalter der Zukunft mehr, nicht einmal eine Bastion der Rebellion ohne Grund, sondern ein marginalisierter Ort der Unsicherheit, Bedrohtheit und Bedrohlichkeit. Der Film mit dem apokalyptoiden Titel „Last Days“ nun phantasiert über die Todessehnsucht eines amerikanischen Jugendlichen, der binnen weniger Jahre in die Situation geriet, seine biografische Versehrtheit, seine private Wut und Depression mit einer großen jugendlichen Öffentlichkeit kommunizieren zu können (und schließlich zu müssen?), die sich offenbar in seinen Liedern gespiegelt fand. Seattle und Generation X waren die Stichwörter, die Band Nirvana und ihr Sänger Kurt Cobain waren deren Exponate und sie wurden zu internationalen Exportartikeln.
Im April 1994 schoss sich Cobain mit einer Schrotflinte den Kopf von den Schultern, in seinen Adern wurde angeblich eine dreifach tödliche Überdosis Heroin nachgewiesen, was sofort Mordspekulationen zur Folge hatte, obwohl niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, an welche Dosen Heroin Cobain derzeit gewöhnt gewesen war. Bekannt ist, dass Cobain kurz vor seinem Tod eigenmächtig eine Krankenhausbehandlung abgebrochen hatte, und mit diesem Zeitraum, zwischen der Rückkehr aus dem Krankenhaus und dem Selbstmord, diesen letzten Tagen Cobains also, beschäftigt sich Van Sants Film, den er Cobain widmete, nicht ohne den Hinweis auf die Fiktionalisierung seiner „letzten Tage“.
Der Film hält sich nur ungefähr an Eckdaten und von Anfang an bricht der Film mit herkömmlichen Standards der Erzählweise. So fehlt ein Vorspann und eine einleitende Vorgeschichte, statt dessen sehen wir in einer halbtotalen Kamera-Einstellung, mit der Nüchternheit, wie man sie sich in Filmen aus der Verhaltensforschung vorstellt, ein fast tierähnliches Wesen, gekleidet und frisiert wie Cobain, welches sich halb instinktiv, halb orientierungslos durch einen Wald bewegt, durch einen Fluss watet, die Nacht an einem Lagerfeuer verbringt.
Blake, so wird das Wesen genannt, von Leuten, die in der Villa wohnen, wohin es immer wieder zurückkehrt, scheint seine Sprache verloren zu haben, nur noch undeutliches Gemurmel bringt es heraus, und es scheint keinen Bezug mehr zu seiner Umwelt herstellen zu können. Die größte Aufmerksamkeit erhält von ihm ein Mann (Thadeus A. Thomas, auch im wirklichen Leben ein Gelbe-Seiten-Handelsvertreter), der im Auftrag der Gelben Seiten ihn zu einer Annonce für seine „Firma“ überreden will. Lange Einstellungen auf Blake, gekrümmt auf dem Wohnzimmerfußboden, während auf MTV Boyz 2 Men „On Bended Knee“ singen, wie er zwischen Bewusstlosigkeit und Vollrausch (nie sieht man übrigens ihn eine einzige Droge konsumieren) dahinvegetiert, wie er sich wahllos in der Küche Essen zusammenmischt, wie ihm seine Plattenproduzentin (Kim Gordon von Sonic Youth) vorhält, er lebe nur ein Rock’n’Roll-Klischee, wie er vor seinem Agenten in den Wald flüchtet. Blake, der im Übungsraum mittels Loops zur Ein-Mann-Band wird, die Kamera schleicht sich während langer Minuten hinaus zur Totale. Blake, der seinen letzten Song singt: “It’s a long lonely way from death to birth“ (Komponiert und interpretiert von Hauptdarsteller Michael Pitt, im Stil durchaus vergleichbar mit Cobain-Songs, von denen im Film übrigens kein einziger zu hören ist, dafür ertönt in voller Länge Velvet Undergrounds „Venus in Furs“ mit der programmatischen Zeile „I could sleep for thousand years“). Und bei allem immer wieder seine Mitbewohner, die ihn kaum mehr wahrnehmen, der sie kaum mehr wahrnimmt, und ihm das Geld für eine neue Heizung einfach aus der Jackentasche ziehen, während er Unverständliches murmelt.
„Last Days“ besitzt weder eine subjektive Perspektive noch einen allwissenden Erzähler. Im Gegenteil, der Film bemüht sich geradezu, unwissend zu bleiben, das heißt, er geht den entgegengesetzten Weg der Presse, der Medien, der Fans, die ja immer alles gewusst haben, die mit Legenden und Mythen und Rockstar-Stilisierungen ihre Idole oftmals schon zu Lebzeiten töten, indem sie sie idealisieren, instrumentalisieren, zur Ikone einfrieren. Van Sants Film maßt sich nicht an, irgend etwas über die letzten Tage Cobains zu wissen, das führt mitunter so weit, dass die Kamera von fern registriert, dass Blake etwas aus dem Waldboden ausgräbt, was, das kann sie nicht erkennen. In der nächsten Einstellung sieht eine andere Kamera (die Kamera ist so antisubjektiv und „zufällig“, dass man manchmal wirklich meinen könnte, verschiedene rein mechanische Überwachungsaugen würden ihn beobachten), wie Blake ein erdverschmiertes Paket mit Schrotgewehrpatronen auf den Tisch legt.
Man könnte, wie ein Detektiv, bemerken: Offenbar ist hier von Blake die Entscheidung getroffen worden, eine Tat auszuführen, die er sich für einen bestimmten Zeitpunkt seines Lebens vorbehalten hat. Tatsächlich hat er von diesem Moment an immer eine Schrotflinte bei sich. Aber man muss es nicht bemerken, vielleicht ist es auch nicht das, worum es hier geht. Oder vielleicht will sich der Regisseur nicht anmaßen, zu wissen, worum es hier geht.
Der Film erzählt nicht eine Geschichte, er legt Beobachtungsmaterial vor, welches vom Zuschauer irgendwie zusammengesetzt werden kann. Die Auswahl und die Kriterien, nach denen diese Filmcollage dechiffriert wird, liegt im Ermessen des Zuschauers. Eigentlich gilt das im Prinzip für alles, was Film ist, aber „Last Days“ unternimmt im Gegensatz zum Standard-Kino große Anstrengungen, den Zuschauer in keine bestimmte Richtung der Handlungsinterpretation zu lenken, ihm also auch keine Erklärungsmuster anzubieten.
Natürlich steckt aber auch hinter der „Anfertigung“ des „Materials“ keine computergesteuerte Überwachungsanlage, sondern ein Filmteam, nicht zuletzt der Kameramann (Harris Savides), und deshalb ist auch das, was wie ein filmisches Zufallsprotokoll wirkt, genau kalkuliert und bewusst lenkend, aber hinein in ungewohnte und ungeübte Bereiche der Rezeption.
„Die Türen der Wahrnehmung“ ist der Titel der Ambient-Music von Hildegard Westerkamp, die Van Sant in „Last Days“ und auch schon in “Elephant“ als Soundtrack verwendete, und wenn „Venus in Furs“ programmatisch für die Geschichte, genauer gesagt, den Zustand des Protagonisten stehen könnte, dann könnte Westerkamps Titel für die Form stehen, in der uns der Inhalt präsentiert wird: Wie Blake ist auch der Film Worten gegenüber misstrauisch und verschlossen (es wird übrigens viel zeitgenössischer Unsinn im Film geredet), misstraut er also der Logik (der Musikindustrie, der Gelben Seiten, des „Sex and Drugs and Rock’n’Roll“, der Legende), stattdessen lenkt er (die, die dazu bereit sind) von der rationalen auf eine andere Wahrnehmungsebene, man hört den Wind in den Bäumen, das Rauschen des Wasserfalls, Bahnhofsgeräusche (Westernkamps Soundtrack) mitten in der Villa, von ferne Leute im Haus und die ganze Zeit werden wir alleine gelassen, als seine Observatoren, mit einem ausgebrannten jungen Mann. Eine mittlere Zumutung ist das schon, aber wie rät uns filmzentralen-Co-Herausgeber Dietrich Kuhlbrodt immer? Lass es einfach geschehen.