In seinem Blog auf den Seiten der BBC erzählt der Dokumentarfilmer Adam Curtis die Geschichte der Umarmung im britischen Fernsehen und wie das medial vermittelte Sich-um-den-Hals-fallen vom authentischen Ausdruck zur zwanghaften Konvention geworden ist. Als ein Beispiel zieht er ein bemerkenswertes Interview der BBC mit dem Schriftsteller Jean Genet heran. Genet, dem das Image des subversiven Außenseiters anhaftet, merkt man schnell an, dass er mit der Interviewsituation nicht einverstanden ist. Zuerst gibt er sich einsilbig, zu gut kennt er das Prozedere aus Emotionalisierung und Psychologisierung, um ein vermeintlich authentisches Portrait zu zeichnen, als dass er sich darauf einließe. Dass er ein Leben in Einsamkeit gelebt habe, gibt er bereitwillig zu, aber die Annahme seines Interviewpartners, dass ihn dies doch betrübt haben müsse, bleibt für Genet unverständlich. Die Gesprächssituation nimmt eine dramatische Wendung, als Genet versucht, sie aufzubrechen, indem er die Techniker hinter der Kamera ins Geschehen involviert und sie auffordert ins Interview einzugreifen und sich authentisch zu äußern. Nur: Genets Traum von der Revolte des Filmteams kollidiert mit dessen Unlust; der Tonmann äußert, dass er sich gar nicht äußern will und ist somit auf eine Art authentisch, die den Vorstellungen Genets zuwiderläuft. Ob die Authentizität des Tonmannes nun „really real“ ist, wie Curtis behauptet, und die Genets nicht, darüber kann man streiten. Auf jeden Fall sorgt die Kollision der beiden Ansichten für einen faszinierenden Moment.
Travis Mathews ist der Mann hinter „In Their Room“, einer Serie von dokumentarischen Filmen über homosexuelle Männer und ihre Schlafzimmer, die nicht ganz zu Unrecht als „Indie-Porno“ vermarktet wird. Wenn Mathews über sein Werk redet, spricht er viel von Authentizität und Natürlichkeit. Was er darunter versteht, erschließt sich am besten, wenn man einen Blick auf seine Filme wirft, die nun als eine Art Werkschau auf DVD erhältlich sind. Neben einem 20-minütigen Teil mit Männern aus San Francisco und dem einstündigen Berliner Part findet sich noch der Ursprung der Serie in Form von so genannten „Singles“ auf der DVD. Das sind sechs Filme von wenigen Minuten Länge, die sich jeweils nur einem einzigen Mann widmen und in Zusammenarbeit mit dem schwulen Magazin „Butt“ als Web-Serie entstanden sind. Als Bonus gibt es dann noch einen Kurzfilm namens „I Want Your Love“, der Mathews’ dokumentarische Arbeiten in einen Spielfilm übersetzt. Was allen Filmen gemein ist, ist ein Look, der seit dem Direct Cinema einer der Standards für dokumentarisches Filmen ist. Mathews filmt anscheinend im Alleingang mit Handkamera und ohne zusätzliche Beleuchtung, die Produktionsbedingungen schreiben sich so in das Material ein und versprechen authentische Aufnahmen vom wirklichen Leben. Dass dieser Anspruch als illusorisch zu bewerten ist, ist nicht neu, aber es überrascht, wie konsequent Mathews sich als Fliege an der Wand versucht und dabei unreflektiert ästhetische Klischees reproduziert. Als authentisch dürften das wohl vor allem die wahrnehmen, auf die es affirmativ wirkt und die schon immer genau wussten, wie das Echte und Wahrhafte auszusehen hat.
Vor der Kamera, deren Blick eher ein ethno- als pornografischer ist, performen die Protagonisten halbnackt bis nackt einen Alltag aus Rumliegen, Duschen und Vor-der-Webcam-masturbieren. Während die Kamera Körper und Räume erfasst und abfährt, erzählen die Männer von schwulen Befindlichkeiten, ihren sexuellen Vorlieben und Ängsten. Das wird angenehm unaufgeregt inszeniert, auch gibt hier niemand Geschichten von tränenreichen Coming-Outs und schwierigen Familienverhältnissen zum Besten. Stattdessen kriegt man Bekenntnisse zu hören, die zumindest innerhalb heteronormativer Kontexte selten artikuliert werden; da ist von Schmerzen beim Analverkehr ebenso die Rede wie vom Faible für verheiratete Familienväter und seinen Folgen. Auch Genets Aussage, dass Einsamkeit nicht gleich Unglücklichsein bedeute, wird hier geäußert und gibt Zweifeln am Mythos vom Pärchenglück Raum. Durch die Beschränkung auf das eigene Zimmer und das Ausblenden größerer Zusammenhänge wirken die Situationen oft im positiven Sinne banal. Texteinblendungen verraten uns lediglich die Vornamen der Protagonisten und auch ihr Erzählen gibt wenige Anhaltspunkte zum Rekonstruieren einer Biografie. Im Gegensatz dazu sind die Körper und besonders die Räume mit ihrer identitätsstiftenden Funktion geradezu verräterisch; Tätowierungen, Narben, Körperbehaarung und American Apparel-Unterhosen berichten genau wie die Einrichtungen aus Plattenspielern, MacBooks und Radiohead-Postern mehr von der Sozialisation der Männer als ihre Worte.
Man kann sie wohl alle als Hipster bezeichnen und auch wenn sie sich in Körperform, Alter und Herkunft unterscheiden mögen, es ist erstaunlich festzustellen, wie sehr sie und auch ihre Zimmer einander ähneln. Mathews Filme sind keine „Tales of the City“, sondern zeigen anhand vieler Männer und Räume einen einzigen Typen von Mann und Raum. Sie schaffen so eine Ikonografie des nackten Hipsters, wie man sie eben aus „Butt“ oder auch dem für heterosexuelle Frauen konzipierten „Jungsheft“ kennt. So unverkrampft und beiläufig das alles in Szene gesetzt ist, in ihrer Häufung wirken die Indie-Bilder vom Indie-Schwulen bald klischeehaft und unfreiwillig komisch. Mathews’ Konzept funktioniert bei den „Singles“; die kurzen, konzentrierten Blicke auf interessante Charaktere ergeben zusammen mit Mathews’ Montage reizvolle Vignetten. Sie bestechen, wie auch die besseren Sequenzen aus den Nachfolgewerken, immer wieder durch irritierende Momente, in denen über die Möglichkeiten von Intimität reflektiert wird oder die Protagonisten über die Anwesenheit der Kamera stolpern und sich zumindest kurzzeitig befangen geben. Da wird verschämt die Unterhose zurechtgerückt oder einem schwulen Pärchen wird beim vertrauten Geplapper bewusst, dass sie für ein Publikum sprechen. Vor allem im Berliner „In Their Room“ überwiegt dann aber eine in der Dramaturgie recht konventionelle Achsel- und Nabelschau, die mit einem Kaffee am Morgen beginnt und mit dem Fick zweier Fremder in der Nacht endet. Hier hat man das Gefühl, beiwohnen zu müssen, wie Leute kameratauglich ihr Selbst verwerten und dabei keinen Unterschied zwischen der eigenen Webcam und einem willigen Dokumentarfilmer im Schlafzimmer machen. Spätestens beim Spielfilm „I Want Your Love“, der versucht, die Stimmung der „In-Their-Room“-Reihe in einen melancholischen Porno mit rehäugigen Bartträgern zu übertragen, nimmt Mathews’ Arbeit dann ungewollt parodistische Züge an.
„Die Schilderung einer völlig einseitigen Welt von Homosexualität im Film könnte zu einer Desorientierung in der sexuellen Selbstfindung führen“, heißt es aktuell in der Begründung der Freiwilligen Selbstkontrolle zur Altersfreigabe von Sabine Bernardis an sich harmlosen Coming-Of-Age-Film „Romeos“ ab 16 Jahren. Angesichts solcher Statements ist man fast versucht, Filme wie „In Their Room“ aus Prinzip gut zu finden (oder auch Andrew Haighs „Weekend“, der mit ähnlichen Mitteln wie Mathews eine sentimentale Liebesgeschichte erzählt, und bei den meisten Kritikern für Verzückung sorgt. Dabei wird wie in Daniel Sanders Rezension im „Spiegel“ gerne betont, dass der Film nicht nur was für Schwule sei, denn es wirke ja alles so echt und die Protagonisten seien so menschlich). Beinahe möchte man sich schon auf ein Feindbild vom Mainstream einschwören, das besagt, der Mainstream zeige entweder gar keinen oder nur den falschen Sex. Aber ist der Mainstream wirklich so homogen und gesteht man ihm nicht allzu viel Macht und Relevanz zu, wenn man sich im Angesicht seiner angenommenen Übergröße zum Underdog stilisiert und gleich den „Indie-Porno“ als neues Filmgenre ausruft? Weiterhin ist fraglich, inwiefern gerade „In Their Room“ dem Anspruch auf Außergewöhnlichkeit gerecht wird und nicht lediglich einen pseudo-alternativen Mainstream repräsentiert, dem nichts Originelleres einfällt, als Amateurporno als Subversion und Indie als Heilsversprechen für das richtige Leben zu verkaufen. Die Nachfrage nach Filmen, die mit anderen Geschichten und anderen Bildern herausfordern, ist da. Ich glaube nicht, dass „In Their Room“ einer von ihnen ist.
Zur DVD: Die DVD enthält mitsamt dem Bonusmaterial Travis Mathews’ bisheriges Gesamtwerk. Die Sprache ist teilweise Englisch, teilweise Deutsch, deutsche Untertitel sind zuschaltbar. Neben den „Singles“ und dem Kurzfilm „I Want Your Love“ finden sich noch einige gut ausgewählte Trailer unter den Extras.