Der neue Film von Ulrich Seidl beginnt beinahe mit einem Foto: ein Raum in einem Keller. Die Kamera steht fest, ein breites Terrarium steht fest im Bildkader, ein Mensch liegt fast unbeweglich davor, darin liegt eine riesige Würgeschlange, wie eingefroren, das einzige, was sich im großen Bild bewegt, ist eine kleine Maus, die, gerade ins Terrarium gesetzt, sich umschaut, wo sie gelandet sein mag.
Der Film endet mit einem zweiten Käfig, nur dass darin keine Maus, keine Schlange, sondern ein Mensch eingepfercht ist, eine nackte Frau, die sich, wie einst Houdini, aus ihrem engen Gefängnis zu befreien versucht.
Die filmische Klammer, die Rahmung, ist deutlich: es soll um das Gefangensein gehen, und so wie die Maus das Opfer der Schlange, so ist der Mensch das Opfer seiner selbst, allzu oft offenbar freiwillig, wie uns die dazwischen liegenden 85 Minuten von „Im Keller“ veranschaulichen.
Der Keller, genauer der österreichische Keller, ist das Untersuchungsobjekt Ulrich Seidls nach vier Spielfilmen ersten reinen Dokumentarfilms. Wobei man besonders bei Seidls Dokumentarfilmen nie genau weiß, wo denn vor der Kamera das Echte aufhört und das Inszenierte beginnt. Die Inszenierung und damit das Arrangement der Szene hat bei Seidls Filmen immer eine ganz zentrale Funktion. Seine Filmbilder sehen oft anfänglich aus wie starre Fotografien; in absurden Kulissen (hier sind es groteske Kellerräume) werden Menschen, oder vielleicht besser Menschenkörper (was eine Distanzierung verstärkt) platziert oder (wenn nötig, bis zur Verrenkung) arrangiert, sodass (in Seidl-Filmen immens wichtig) eine schöne und ästhetische Bildaufteilung entsteht, dazu kommt eine ästhetische Farbkomposition, sodass diese auch im Film starre feste Bilder, zunächst Fotografien sind, durchaus vorstellbar in Fotoausstellungen, weil allein sie schon sprechen, und gerade in ihrer schönen Form, ihrer Ästhetik und Ausgewogenheit verstärken sie das Abgründige, was sie zeigen.
Irgendwann muss es dem anfänglichen Fotografen Seidl nicht mehr genügt haben, dass die in ihre Interieurs verdammten Menschen stumm und unbewegt blieben; und indem er sie hat tun und reden lassen, was sie sonst auch tun und reden (oder, und das wäre dann eher sein eigener kreativer Anteil und der inszenierte Teil des Dokumentarfilms, er hat sie bestimmte Sachen reden oder tun lassen, von denen er meint, dass sie das noch mehr auf den Punkt bringen, was diese Menschen im Innersten charakterisiert; und das ist so wie bei der Platzanordnung auf dem Foto), indem er begann, Filme zu machen, ging er diesen Bildern hinterher, in ihre Tiefen, in ihre Gesetztheiten, von der Ahnung zur Vergewisserung, zur furchtlosen Konfrontation mit dem, was als Andeutung schon für den Durchschnitt strapaziös genug ist.
Damit aber nicht genug: Seidl postuliert ja gerade, dass es der gesellschaftliche Durchschnitt ist, den er hier und in allen seinen Filmen porträtiert. Nach Seidl ist ja gerade das Durchschnittsleben das Leben, das Ungeheuer gebiert, und der Durchschnittsmensch sich selbst das Ungeheuer.
Schon die Anfangsbilder von „Im Keller“ setzen eben das voraus: Garageneinfahrten, Eigenheime mit schmalen Rasenstücken, umgeben von meterhohen dicken Hecken, die sowohl den Einblick als auch den Ausblick verhindern, leblose Sauberkeit und Ordnung als Normalität, in der schon das Abgründige wartet. Und wo, wenn nicht im buchstäblichen „Hinab“ des Kellers lauern die Geheimnisse und die Sehnsüchte und die Leidenschaften, wobei der Österreicher daran die Leiden bevorzugt, will man Ulrich Seidls Expedition in die Niederungen folgen.
Ein Drittel seines Films nämlich widmet sich ausschließlich einem Ehepaar, das in seiner sadomasochistischen Beziehung offenbar sein Glück gefunden hat. Sie Herrin, er Hund, der auch schon mal die Toilette sauber lecken muss. Ein für die beiden alltäglicher Lebensstil, der im Keller seine Vollendung und libidinöse Zuspitzung erfährt: eine Streckbank, auf der er buchstäblich an die Eier genommen wird.
Eindrucksvolle Bilder aus der Seelenwüste, jahrelang gesammelt (wie Seidl in einem Interview sagt), neben denen schon fast banal und heimelig anmutet: die Schießhalle als Hobbykeller, sogar der Partykeller mit den originalen Nazidevotionalien und dem Führergemälde, unter welchem sich u.a. zwei aktive ÖVP-Politiker zuprosten – um sich hinterher zu wundern, wie ihnen das nach Aufführung des Films jemand zum Vorwurf machen konnte. Parteiausschlussverfahren, wieso? Ach, Führerland Österreich! Vielleicht ist die Pflege „alter Tugenden“ ja in Österreich so verbreitet, dass es eher unnormal ist, wenn man sie hinterfragt, aber normal, sich dabei fürs Kino filmen zu lassen. Allemal eigenartig ist es, wie man bei diesen Bildern zwar den Kopf schüttelt und gleichzeitig unberührt bleiben kann. Aber auch das bewirkt Seidls Collagensucht.
Keller, so lernen wir, ist Kitsch und Dreck und Schmerz und Folter und alles kultiviert, okay, kapiert. Und Keller ist auch natürlich Versteck. Die etwas ältere Frau, die aus einem Pappkarton vielleicht einmal am Tag ihr Baby, nämlich eine so genannte „Reborn-Puppe“, auspackt und es zärtlich in den Arm nimmt und mit ihm spricht, tut das offenbar ohne das Wissen ihres Mannes; Überhaupt scheinen österreichische Männer und Frauen sich kellermäßig und überhaupt zu meiden, es sei denn, sie fügen sich dort unten Schmerz und Erniedrigung zu.
So entpuppt sich eine Pathologie nach der anderen, ein Bilderreigen der Unglücklichen und der Freaks ist das, eine veritable Ausstellung des Perversen oder Fetischierten als Querschnittspanorama des Bodensatzes eines Landes. Und so lange und so penetrant hält uns Seidl diese seine (denn es ist seine Auswahl) Bilder vor, bis wir betreten und erdrückt nichts mehr sagen können, außer: Du hast ja Recht.
Ist das der Weisheit letzter Schluss? Man muss tatsächlich befürchten, dass mit dieser Beweisführung der Patient tot und das Denken, das historische, politische Verorten, ein ethischer Kontext, ein analytischer Umgang mit dem Material zu einem Ende gebracht sind, weil das Ergebnis immer nur heißt: Österreich (und wer weiß, vielleicht auch Europa, die Welt?) ist eine Anhäufung von Krankheit, ist unrettbar, ist Hölle.
Solch Beweisführung kann nur funktionieren, wenn die Beweismittel nur zum Beweis einer These gesammelt werden, die von Vornherein fest steht, und die deshalb simpler ist, als man denken möchte, weil eindeutig simpler als das Leben – um das es hier doch angeblich immer geht.
Bei allem Respekt: Interessiert sich Seidl in Wahrheit für die Geschichte, die Schicksale der Menschen, die er in seinen Filmen auftreten lässt? Oder sind die nur so lange für ihn interessant, wie sie geeignet scheinen, als Exempel seiner irdisch-austrischen Höllenvision eine Evidenz herzustellen?
Diese fatalistische und apokalyptische Perspektive auf die Dinge (die Dinge, die Verhältnisse, die es ja natürlich auch alle ähnlich gibt, aber eben nicht nur und nicht nur so endgültig!), diese zurichtende Perspektive kann ja in ihrer Eindeutigkeit und Totalität nur funktionieren, wenn sie ihren Objekten, Dingen, Menschen das Leben austreibt. Deshalb sind Seidls Protagonisten ahistorisch, deshalb sind sie eingefroren in ihrer jeweiligen privaten Hölle, in ihren jeweiligen Standbildern, deshalb sind sie keine komplexen Charaktere mehr, sondern nur die auf ihre jeweiligen Zustandsbeschreibungen reduzierte Figuren, denen jeder Spielraum, Hoffnung und jede Veränderung verwehrt ist. Eine Frage: Hat so eine deutlich determinierte Definition menschlichen Seins nicht eine lange fundamentalistisch-theologische Tradition? Zumindest ist sie antipolitisch, sie ist lähmend für alle Beteiligten incl. der Rezipienten, weil sie die Möglichkeit von Autonomie negiert. Was nun das Kino betrifft, ist sie antidramatisch, denn eine Entwicklung, also einen Plot, kann es in ihr nicht geben, weil die Menschen darin keine Wahl haben. Seidls Kino ist ein deskriptives, fixierendes Gemälde, und was es immer und immer wieder zeigt, ist: „We all are lost!“. Aber das ist nicht wahr.