Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori) lässt den Kopf hängen und verweigert jegliche Auskunft und Kooperation, wenn er seinem Psychotherapeuten gegenübersitzt. Das 14-jährige Problemkind, dessen Eltern getrennt leben, habe ein ausgeprägt „starkes Selbst“ und leide infolgedessen an einer narzisstischen Störung, lautet die Diagnose. Wenn Lorenzo die Arztpraxis verlässt, betritt er eine Wendeltreppe, deren Spirale geradewegs sein kompliziertes Seelenleben einschließt. „Boys Don’t Cry“ singen The Cure, was wir als Zuschauer ebenso laut und die Leinwand erfüllend hören wie der in sich gekehrte Jugendliche, der sich mit seinem Kopfhörer und öfters auch mit einer übergestülpten Kapuze von der Außenwelt abschottet. Gegenüber seiner alleinerziehenden Mutter Arianna (Sonia Bergamasco) pflegt er einen provozierenden Widerstandsgeist; in der Schule schwimmt der schweigsame Einzelgänger gegen den Strom und weiß es trickreich zu arrangieren, dass er die einwöchigen Skiferien schwänzen kann.
„Allein geht es mir super“, sagt Lorenzo einmal. Also bezieht der experimentierfreudige Außenseiter heimlich ein Versteck, das für ihn zu einem ambivalenten Refugium wird, weil es im Kellerraum ein paar Stockwerke unter der elterlichen Wohnung situiert ist. Ausgestattet mit Proviant für sieben Tage, mit Büchern und Musik, richtet sich Lorenzo zwischen Staub und Gerümpel im einsamen, dunklen Untergrund ein. Dabei verkörpert das verdreckte Verlies für Lorenzo ebenso die Freiheit eines selbstgewählten Exils. Der italienische Meisterregisseur Bernardo Bertolucci setzt in seinem neuen, nach fast zehnjähriger Pause entstandenem Film „Ich und du“ („Io e te“) diese Dialektik zwischen oben und unten, Licht und Dunkelheit, Ausbruch und Einschluss faszinierend anspielungsreich und vieldeutig ins Bild. So entfaltet sich Lorenzos äußerliche Regression ins Klaustrophobische zugleich im „Bauch des Hauses“, wo das geräuschvolle Ader-System der Wasserleitungen zusammenläuft und Heizungsrohre für wohlige Wärme sorgen.
Als plötzlich und unerwartet Lorenzos ältere Halbschwester Olivia (Tea Falco) das Versteck entdeckt und vehement Einlass begehrt, scheint es mit der Abgeschiedenheit zunächst vorbei zu sein. Die zornige junge Frau ist eine heimatlose Drogenabhängige auf Entzug, die ihre künstlerischen Ambitionen als Fotografin an die Heroinsucht verloren hat. Olivia sucht nach Erlösung aus dem Gefängnis aus Drogen und Ich-Bezogenheit und erlebt weitgehend hilflos die Hölle der Entzugserscheinungen, die Bertolucci ungeschminkt zeigt, wobei sich Schönheit und Schmerz vermischen. Zeitweise wirken die beiden Geschwister wie Tiere im Käfig, dann wieder wie Schicksalsgenossen, die sich langsam einander annähern und an einem verborgenen Ort nach Erneuerung streben. Mit deutlichen Reminiszenzen an seinen Film „Die Träumer“ inszeniert Bertolucci einen Eskapismus, der sich immer mehr von den raum-zeitlichen Koordinaten löst, stattdessen zu einer Logik des Gefühls findet und damit auch zu einer inneren Verbundenheit der Protagonisten.
Auf dem Höhepunkt dieser sehr sinnlichen Reise zu sich selbst und zum Anderen, deren einzelne Etappen durch das weite Feld der Imagination und des Schlafs führen, singt David Bowie zur Melodie seines Songs „Space Oddity“ einen höchst poetischen italienischen Text, den der Lyriker Mogol „Ragazzo solo, ragazza sola“ betitelt hat und in dem es ebenso traurig wie schön heißt: „In meinen Augen wohnt ein Engel, der nicht mehr fliegen kann.“ Dabei umarmen sich die Geschwister zum Tanz, der wiederum zum gegenseitigen Versprechen wird. Später, am siebten Tag der Woche, tauchen sie frühmorgens gemeinsam wieder aus ihrem Kellerversteck auf. Die Kamera beschreibt bei ihrem Abschied voneinander eine Plansequenz, folgt dann Lorenzo, während Bowies Songs – jetzt auf Englisch – nach dem Countdown der ersten Strophe zur Zeile „This is ground control to Major Tom“ anschwillt und das Bild die Bewegung seines Helden einfriert. In dieser ebenso schönen wie ergreifenden Hommage an den Schluss von François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ („Les quatre cents coups“) richtet Lorenzo seinen vieldeutig offenen Blick, der einen neu gewonnenen Standpunkt mit einer ungewissen Zukunft vereint, gegen die Gesetze des Kinos auf den Zuschauer.