Ein(ei)igkeit, Konflikt und Staatsmachtgeschichte
“Ich seh, Ich seh”: Schon der Titel sagt, dass es hier um eine Doppelung, jedenfalls um ein Mehr an Sehen geht. Also ist es doppelt schwer, etwas zu sagen, denn: Zum einen muss hier, wie bei vielen rezenten Horror-, Spuk- und Mystery-Thrillern, der spoiler alert zur Anwendung kommen; zum anderen ist schwer zu sagen, was wir da nun sehen – zumal im Rückblick.
Von seinem Ende her tritt diese Ambivalenz an “Ich seh, Ich seh” voll zutage. Zunächst lässt sich sagen: Der Film endet in der perfektionierten Konvention, und auch das in zweifacher Hinsicht: Mit dem Bild der Mutter und ihrer Zwillingsbuben (Susanne Wuest, Elias & Lukas Schwarz), die nicht ganz da sind, aber dafür umso beherzter grinsend 'Weißt du, wieviel Sternlein stehen' in die Kamera singen, ist eine traditionelle Konvention von mütterlich definiertem Familienglück bis zur Perfektion (über)erfüllt und ausgestellt.
Dieses Schlussbild gerät – umso mehr, als es ein Mama-Kinder-Idyll ironisch, also ostentativ wissend ausstellt – zur selbstbezüglichen Signatur des Films und seiner Operation. Und die läuft auf ein mustergültiges Aufpolieren neuerer Horrorfilmkonventionen hinaus: etwa der Mindgame-Film-Plot-Twist-Konvention, der zufolge eine handelnde Figur sich als imaginärer Mitmensch erweist, wobei oft, so auch hier, ein Schuldtrauma im Spiel ist; oder das finale Sich-Fügen-Müssen einer Frau in eine – und sei es adoptionsbedingte – Mutterrolle gegenüber Spukwesen (wie in „The Others“, „The Ring“, „Dark Water“, „Das Waisenhaus“, „Mama“). Das Einschwenken in die Bildlogik der rundum perfektionierten Form, der durch Variation nochmal vitalisierten Konvention, wäre in diesem Sinn das Endergebnis all der Irreführungen, Irritationen und Mysterien, die dieser in Schauspiel, Kamera, Schnitt, Sounddesign und natürlich Veronika Franz‘ und Severin Fialas Regie virtuose Film bietet.
Das betrifft aber nur den ersten Aspekt der Schwierigkeit beim Sagen, was zu sehen ist, eben den, der unters Verdikt des Spoiler Alert fällt. Aber mit diesem Ende ist nicht alles gesagt und nicht alles gesehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Moment der Retrospektion (Das also war es!), bei dem notorische Blitzmerker sich stolz sagen können, sie hätten es schon lang vorausgesehen ('Ich seh… dead people!' – 'Ich seh… sie auch schon!'), erstens in die Dauer eines Immer-mehr-Dämmerns gestreckt ist und diese zweitens dem Ende lang vorhergeht. Mit dem grinsenden Idyll-Ende ist nicht alles aufgelöst und abgedeckt, was hier an Ominösem und bildlich Eigenlogischem umgeht. Was geht um? Etwas, das nach einem Umgang fragt, der nicht in jenem Dialog zwischen Expertisen besteht, dem zufolge ein schlauer Film vorgibt und ein schlaues Publikum nachvollzieht (oder womöglich oberschlau zuvorkommt: 'Hab‘s eh gewusst!'). Es gilt, diesen Film beim buchstäblichen Bild einer anderen Schlauheit nehmen, einer Einsichtigkeit, die weniger der Virtuosität von FilmemacherInnen oder InterpretInnen entstammt als dem irritierenden (und im Horrorfilm auf perfide Weise mehr als in anderen Genres 'normalen') Haunting von Bildern. Gerade von vertrauten Bildern: von zwei- oder mehrfach gesehenen, die uns somit als „Signs“ im Zustand der „High Tension“ begegnen (um zwei andere Mindgame-Horrorfilme zu nennen, in denen Leute im Maisfeld umgehen).
Dem Ende geht ein immer gewalttätigerer Kampf zwischen Mutter und Zwillingsbuben um die Macht im gemeinsamen, an einem Wald und Teich im sommerlichen Burgenland abgelegenen Haus voraus. Im Verlauf des Kampfes verschieben sich Zuordnungen: Mutter agiert anfangs mit Regeldeklarationen (keine Tiere ins Haus bringen, keine Türen zusperren), auf die die Buben mit Improvisation (Katze verstecken, Türknauf blockieren) antworten; später ist es umgekehrt, und es ist mehr als nur ein Hauch von Folterhorror und Spoiler Alert. Aber auch die Einschätzung, welche Gewalt opferseitige Selbstverteidigung ist und welche ein Terrorregime errichtet, muss revidiert werden – und wohl auch unsere Empathie gegenüber Figuren.
Ohne dass der Film, der fast zur Gänze in der sommerferialen Isolation der Villa und Umgebung spielt, es groß ausformuliert, platziert er seine Aktionen, Äußerungen, Empfindungen in einem Register, das gesellschaftlich ist. Eine Mutter, die mit bandagiertem Gesicht vom Schönheitschirurgen zurückkommt und vielleicht nicht sie selbst ist, wie es den Buben scheint, die ihrerseits aussehen und oft reden wie einer – das ist schon viel Sozietät, da werden Ver-, Auf- und Zuteilung zum Problem. Etwa die Frage, welche Gesten, Sätze, Handlungen einer streng sorgenden Mutter zuzuordnen sind und welche einer Wahnsinnigen, die deren Platz oder Körper usurpiert hat; oder, konfrontiert mit der perfid gestalteten Neutralformulierung und Phrasierung von Sprechakten der Buben, die Frage, ob die Mutter immer erst auf den zweiten reagiert – weil sie den einen nicht hören will? oder weil sie ihn nicht hört, da nämlich… Sie sehen schon. Gesellschaftliche, nämlich Klassen-Aufteilung, kommt auch in der markanten Szene mit zwei Rotkreuz-SpendensammlerInnen ins Spiel, wenn der Sammelmann in plebejischem Soziolekt motzt, das Spendenformular habe wohl ein Doktor ausgefüllt, so unleserlich sei es, und die 50 Euro-Spende der Buben sei schon okay, denn die Villa sehe so aus, als könnten die, die drin wohnen, sich´s leisten.
Das Sozialregister ist hier klarerweise stark überformt/überlagert vom Register der Familie, zumal einem Familienroman der Neurotiker: Während – anders als bei Freud und anders als in Almodovars „Haut, in der ich wohne“ – das Geschlecht der Mutter wie auch das Fortsein des Vaters certissimi sind, ist die Mutterschaft semper incerta, zumal in den Augen der aus Angst zu allem entschlossenen Buben. Etwas distanzierter gesehen, setzt der Plot zwei Optimierungsprojekte gegeneinander: Die Mutter, Alleinerzieherin, TV-Moderatorin von Beruf, will Perfektion im Gesicht und im Heim und will ihrem Nachwuchs etwas abgewöhnen (aber was genau?). Dieser Wunsch erfährt ein Verhindern seitens Kindern, eine Radikalvariante dessen, was viele Frauen zwischen Beruf und Mutterschaft erleben: Wie soviele (Un)Wesen in Horrorfilmen und schrecklichen Realitäten wollen die Buben nur spielen: Sie erzwingen ein Idyll, in dem die Mutter ihnen gehört, und agieren dabei als Loyalisten, verpflichtet auf Echtheit, Wahrheit und deren strenge Vorgaben: Unsere Mama, verkünden sie, würde sowas niemals tun!
Damit kommt zuletzt ein Register des Staates ins Spiel: Staatsmacht zur Feststellung von Identität und Sicherung/Wiederherstellung des Immer-Gewesenen – das begegnet uns in dem (vielen aus „Inglourious Basterds“ bekannten) Spiel mit den Identitäts-Stirnkarten, später in Wahrheitsprozeduren am Leib der Mutter: Bitte beweis‘, dass du unsere Mama bist – indem du etwa das Lieblingslied des einen Buben nennst. Ist es 'Wieviel Sternlein stehen' oder 'Guten Abend, gut Nacht'? (Die beiden Lieder sind so schon schwer genug zu unterscheiden.) Der Staat will wissen, deshalb ist Überwachung sein Geschäft – ein Mehr an Sehen, das sich zum paranoiden Zuviel-Sehen bzw. Zuviele-Sehen auswächst. Mutter und Buben überwachen einander, etwa mittels eines heimlich platzierten Babyfons. Aber schon der Markt ist Überwachung am Heim: Die Buben sehen beim Googeln, dass ihr Haus schon 'am Markt', bis ins Innere durchgesehen und gepostet ist – da können die oft, fast rituell geschlossenen Jalousien nix mehr ändern. Und auch der Markt zirkulierender Filmbilder hat schon vorgeprägt, vorgesehen: Susanne Wuests Figur wirkt wie eine Zehn-Jahre-später-Version ihrer Nebenrolle im Gated-Community-Mystery-Thriller „La Lisière – Am Waldrand“, in dem sie 2010 die Gattin eines Investors spielte, die in ihrer Villa 'ein bisschen fotografiert'; davon sind wohl die bewegungsunscharfen Riesen(porträt?)fotos geblieben, die in „Ich seh ich seh“ die Villa zieren und die die Mutter in einer lynchigen Szene quasi nachstellt, als sie nackt im Wald geht mit dem Bandagenkopf wackelt, bis er unscharf wird.
„Ich seh ich seh“ gibt zu viel zu sehen, das nicht zu sehen ist – und deshalb auch schwer ins Aussagbare überführbar ist: den Kopf, der kein Gesicht zeigt; Momente schwarzer Leinwand; Spiele mit Käfern und Mutters Mund, so grauslich, dass es kaum anzusehen ist. Aber andere Objekte und Wesen versammeln sich zu Symbolen auf Geschichtsterrains, die mit Imaginarien des Schreckens (quasi-)staatlicher Mächte aufgeladen sind: Ein Bunker im Wald drängt sich als Nazi-Ikone oder auch als Ort einer Archäologie von Gewalt im Allgemeinen auf (oder als Genregedächtnisort, an dem das deutsche Mindgamedrama „Was du nicht siehst“ grüßen lässt: Dieser Komplementärfilm zu „Ich seh ich seh“ – schon dem Titel nach – zeigte 2009 ebenfalls Nazi-Bunker, imaginäre Geschwister, Gewalt gegen einen Nicht-Elternteil und ein totes Haustier, sowie den Zentralort 'modernistische Sommerurlaubsvilla', im Euro-Thriller eine Art Parallelort zu all den Summercamps und cabins in the woods der US-Horrortouristik).
Oder zeugen die symbolischen Orte eher vom Nachleben des Katholizismus? Das Beinhaus, der Wiesenfriedhof, die Dorfkirche und ihr Personal, sowie Gott anrufenden Gutenachtlieder, das sind Stationen auf dem Weg der Buben zu ihrer Rolle als veritable (wenn auch nicht allzu christlich motivierte) Hexenjäger und Inquisitoren, die mit Gesichtsmaske und Armbrust antreten, um die aufs Kreuz gelegte Mutter auszufragen und gar nach einem (fehlenden) Mal an ihrem Leib zu suchen.
Zwischen christlichem und Haken-Kreuz schlägt der Film einen überraschenden Haken zum Roten Kreuz, zu Herr und Frau Spendensammler in Uniform, die ins Haus kommen und Schlimmes verhindern könnten, wenn sie mitkriegten, was da läuft. Was sehen/hören wir da? Zum einen ein Gustostückerl der Suspenseformelanwendung, versetzt mit lakonischer Soziokomik (samt Grüßen von Baby Jane). Zum anderen führt besonders der Rotkreuzmann, der nicht relief, sondern nur comic relief bringt, als ostentativ ohnmächtiger Autoritäts-, zumindest Uniformträger uns zurück zur Geschichte von Staatsmächten und ihrer Umformulierung – und zurück vom Ende zum Anfang und damit zum Ende von 'Ich seh ich seh'.
Nämlich: Schon der unmittelbare Anfang des Films ist ironisch und wissend als Vor-Spiegelung des Schlussbildes (Mutter und Buben singen), vor allem aber als Fremdfilmmaterialzitat einer fernen, vergangenen Idyllik von Mutterschaft. Eigentlich ist es ja Adoptivmutterschaft vorm historischen Hintergrund von NS-Terror, jedenfalls ist es „Die Trapp-Familie“ aus Wolfgang Liebeneiners Kinohit von 1956, also Mutter (Ruth Leuwerik) samt Kinderschar in Tracht, wie sie am Filmende 'Guten Abend, gut Nacht' singen und die Mama 'Gute Nacht' in die Kamera sagt; dann beginnt „Ich seh, Ich seh“. In der Totale der Trapp-Familie (deren Schicksal dem noch bekannteren „Sound of Music“ zugrundeliegt) verfangen sich Sehen und Sagen wie in einer Stolperdraht-Falle oder in der blocage symbolique (beides wirkt sich in „Ich seh ich seh“ aus), die im Erzählkino bewirkt, dass das Fortschreiten der Handlungen sich in Rekursionen und Echos verrennt.
Ein Ende als Anfang, Gute Nacht als Opener: Da nimmt eine Nachgeschichte ihren Ausgang, merklich für jene, denen noch Old-School-TV-Bilder im Kopf umgehen – von einem der zwei Buben (keine Zwillinge) in dem von Mutter und fünf Töchtern dominierten Bild, in dem der Vater fehlt, aber einer da ist, der als ewiger Bub den Alten ostentativ überdauert hat. Der Lieben einer, rechts am Bildrand, ist der zwölfjährige Michael Ande, später Kleindarsteller, Synchronsprecher – und als Kriminalassistent Gerd Heymann seit 1977 an der Seite des jeweiligen Titel-Kripo-Helden in der ZDF-Serie „Der Alte“ im Dauereinsatz, mithin dienstältester Staatsgewaltsermittler im deutschsprachigen Fernsehen. Mit diesem laut 'Vieldeutigkeit' schreienden Filmzitat historisiert „Ich seh, Ich seh“ sein Thema der Abwesenheit der Autorität der Alten angesichts der insistierenden Präsenz der Buben. Mutters Maske markiert die Machtübergabe vom hinfälligen Gesetzesstaat ans neofeudale, improvisationsfreudige Überwachungsregime der brutalen Brüder.
Das Thema hallt nach in all den schwachen, einfältigen Männerfiguren: im Vater der Zwillinge, der fort ist; im Rotkreuzler, der Beruhigung brummelt, als seine Kollegin noch argwöhnisch ist; in dem Bauer, der sein Feld abbrennt und so nur noch mehr Nebel erzeugt; in dem Lebensmittellieferanten, der über die viele Tiefkühlpizza schwadroniert und nicht merkt, dass sich hier Leute einbunkern; in dem Pfarrer, der die flüchtenden Kinder ins Haus zurückbringt (aber damit auch Mutters Schicksal besiegelt); in dem debilen Mesner, der auf die Frage 'Können Sie uns helfen?' so eilfertig 'Ja!' antwortet, dass klar ist, dass das nicht stimmt. Der Musikus, der in dem ausgestorben in der Sommersonne brütenden Dorf an der Thaya besoffen seine Quetsche traktiert, ist im Abspann als Akkordeongott betitelt.
Gott der Herr hat sie gezählet, aber er weiß nicht, wie viele es sind. Und morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt; wenn nicht, bist du tot.