Dass Filme Vergangenes aktualisieren, dass sie selbst Tote zum Leben erwecken können, ist eine bereits früh erwähnte kinematografische Qualität in den Augen der ersten Filmtheoretiker. Ein geisterhaftes Medium, das die Auftritte von Toten archiviert und es versteht, diese jederzeit wieder vorzuführen. Ben Hopkins Film „Hasret“ bewegt sich zwischen Dokumentation und Imagination, zwischen Wach- und Traumzustand. Der britische Regisseur sucht Geister auf, er ruft sie an, nachdem sich beim Sichten des von seinem Kameramann aufgenommenen Filmmaterials eine junge Frau – sie erscheint schemenhaft und auffallend zugleich – in die Daten eingeschrieben zu haben scheint. Merkwürdig ist dieser Eindruck, da die Frau während des Drehs vor Ort von niemandem gesehen wurde. Sinnestäuschung oder digitaler, vielleicht auch spiritueller Spuk?
Ursprünglich von einem Fernsehsender damit beauftragt, eine hippe, solide Dokumentation über Istanbul zu drehen, haben sich Hopkins und seine Crew anfänglich damit beschäftigt, Touristenmagneten aufzunehmen und das wuselige Treiben der massenhaft bevölkerten Straßen festzuhalten. Zu den vom Sender erbetenen Zeitrafferaufnahmen hören wir Hopkins aus dem Off, weniger dynamisch denn informativ, als würde er aus einem Wikipedia-Eintrag vorlesen: Land und Leute, Zahlen und Fakten und nochmals Fakten, von denen sich doch so viele der Fernsehreiseberichte vollsaugen. So voll, dass kein Platz mehr bleibt für etwas Persönliches, etwas Eindrückliches. Hopkins hat in seinem Film „Hasret“ Platz genug gelassen für Individuelles, für seine eigene Istanbulerfahrung, die er mehr als bereitwillig mit dem Publikum seines Films teilt. Für manch eine_n mag das gar zu viel sein, sollte man sich zu sehr gewöhnt haben an diese anderen Standardstadtdokus.
Hopkins fehlt es an Illusion und er sehnt sich nach etwas Anderem. Diese Sehnsucht ('Hasret' bedeutet nichts anderes) verführt ihn dazu, sich abseits des ursprünglichen Pfads seiner Nullachtfünfzehn-Istanbul-Entdeckungsreise zu begeben. Jenseits des auch für ihn Bekannten – Hopkins lebte längere Zeit in der Metropole am Bosporus – begegnen ihm Gestalten eines anderen Istanbuls: Verstörend, mysteriös und faszinierend. Da sind die Katzen, die überall in das Auge des Kameraobjektivs starren, die rätselhaften Graffiticodes der Gezi-Demonstrant_innen, der Geschichtsschamane, der Telefonnummern von Toten bereitstellt und eben jene Telefonate aus einem wörtlich zu nehmenden Off. Alles Metaphern für die große Anzahl an geduldeten, aber gesellschaftlich ausgeklammerten und irrelevanten Flüchtlingen, die Hopkins zu Beginn anspricht?
„Hasret“ kann gut als Essayfilm gelesen werden, als Gedankenstrom, der vordergründig seine eigenen Produktionsbedingungen verhandelt, mögen sie auch noch so inszeniert sein. Diese stetig präsente Selbstreflexion breitet sich durchaus humorvoll, mit einer ironischen Note aus.
Das Team wird gleich mit der ersten Einstellung ins Bild gerückt: Dicht aneinander gedrängt, setzen sie auf einem Containerschiff über nach Istanbul, weil das Budget durch Flugtickets bereits aufgebraucht sein würde. Immer wieder kommt es zu Sticheleien gegen den Regisseur, der keinen Drehplan zu verfolgen scheint, seiner Crew zur Ermunterung bedauernswerte Schauplätze zeigt, dann wieder eine bunte Kindertanzgruppe. Schließlich reist die frustrierte Crew ab, lässt den in einem merkwürdig-angenehmen Sog gefangenen Hopkins zurück, allein gestellt auf sich und seine Kamera mit den grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen. Manchmal scheint es, Hopkins und sein Film könnten sich nicht entscheiden, ob sie sich in einem Wunschtraum oder in einem Alptraum verloren glauben.
Die Nacht zum Tag gemacht, legt sich der Brite nach Mitternacht auf die Lauer, um Geistern und mit ihnen der Parallelwelt Istanbuls zu begegnen. Doch die Straßen erscheinen leergefegt, auch die Katzen sind verschwunden. Eine gehetzte Jagd wie durch das Fadenkreuz des Kameraobjektivs beginnt. Verwackelte, unscharfe, nicht sofort erkennbare
Handkameraaufnahmen sind das Ergebnis dieser nächtlichen Streifzüge. Doch was für eine Jagd ist das? Was sucht Hopkins? Was versuchen auch die Zuschauer_innen in Hopkins Bildern zu entdecken? Zwischenzeitlich miteingetaucht in die anthropologischen und philosophischen Nachdenklichkeiten des Regisseurs, die er immer wieder via Voice-Over in einen dritten Raum stellt und die diesem Filmerlebnis so gut tun. Dieser dritte Raum ist wie auch Hopkins Istanbulerfahrung einmalig: eingewoben in das Dazwischen des Geschehens auf der Leinwand und dem, was sich in den Köpfen des Publikums abspielt.
Der Film endet mit einem Tanz einer unbekannten, schönen Frau am Ufer des Bosporus, gefangen in ihren Bewegungen, im Erleben dieser Stadt, im Erleben mit sich selbst. Ist es von der Hand zu weisen, dass die Frau eine physische Verkörperung Istanbuls symbolisiert, letztendlich das ist, wonach Hopkins gesucht hat, wonach er sich gesehnt hat? Immerhin hat dieses Bild es geschafft – imaginiert oder nicht -, den Verleih zu überzeugen, als geeignetes Filmplakat herzuhalten für einen Film über Istanbul, geprägt von einer nur schwer in Worte zu fassenden Sehnsucht. Einer Sehnsucht, diese Stadt nie wieder verlassen zu müssen. Eine wahr gewordene Prophezeiung der Hafenarbeiter, mit der das Filmteam und auch die Zuschauer_innen eingangs, gleich nach der Ankunft in dieser Stadt konfrontiert wurden.