1993 veröffentlichte Bernd Begemann auf seinem Album „Rezession, Baby!“ den Song „Rambo III mit Jochen Distelmeyer im Autokino“, der von gemeinsamen Kino-Besuchen mit dem Blumfeld-Sänger und Vorzeige-Diskurspopper Distelmeyer erzählte. Darin heißt es: „Vor seiner Haustür hatten wir dann noch einen Streit / Ich weiß nicht, wegen irgendeiner Kleinigkeit / Jochen sagte: »Bernd, du betreibst Betrug / Du bist einfach nicht radikal genug!« / Ich sagte: »Jochen, sieh es mal so: / »Du bist Godard und ich bin Truffaut.« / (Und auch für folgende Einsicht ist es nicht zu früh: / Du bist Sartre und ich bin Camus).“ Tertium non datur! Doch der weit verbreitete Gegensatz hier Truffaut, der Regisseur, der die Frauen liebte und da Godard, der Regisseur, der die Politik liebte und im Kollektiv verschwand, war immer nur die halbe Wahrheit. Daran will dieser Crashkurs in Sachen Filmgeschichte von Emmanuel Laurent ein Kinopublikum erinnern, dem hierzulande seit 1990 keine Gelegenheit mehr gegeben wurde, sich zu veranschaulichen, dass Godard, der Überlebende, noch immer Filme dreht.
In „Deux de la Vague“ wird die Geschichte noch einmal erzählt, vielleicht etwas zu sehr aus der Position Truffauts, aber immerhin. Zwei junge Männer aus höchst unterschiedlichen sozialen Verhältnissen begegnen sich 1949 in einem von Eric Rohmer geleiteten Filmclub und merken schnell, dass sie dieselben Filme lieben, dass sie dieselben Kritiken zu diesen Filmen mögen, dass sie vielleicht selbst Filmkritiken schreiben sollten, weil sie auch dieselben Filme verachten. Später werden sie beginnen, ihrerseits Filme zu drehen, die wahrhaftiger, mutiger sein sollen als die verachteten Qualitätsfilme der Altbranche. Truffaut versetzte dieser Altbranche dann einen Schock, als „Sie küssten und sie schlugen ihn“ 1959 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde. Generös überließ Truffaut Godard den Stoff für „Außer Atem“, der der zweite große Erfolg der Nouvelle Vague werden sollte. Freunde in der Cinephilie.
So richtig traut der Film, der fast nur aus Archivmaterial und Filmausschnitten montiert ist, seinem Nukleus aber selbst nicht über den Weg. Er setzt zwar mit den ersten großen Erfolgen ein, führt dann aber zurück in die späten 1940er und frühen 1950er Jahre, erzählt von Andre Bazin und Eric Rohmer, zeigt auch, dass man das Duo Truffaut/Godard wohl zumindest um Chabrol und Rivette erweitern müsste, bringt frühe Kurzfilme wie „Les Mistons“ (1957) oder „Une histoire d´eau“ (1958) ins Spiel. Die Geschichte ist also größer und komplexer. Und die Cinephilie, von der der Film berichtet, scheint heute nur noch als Nostalgie denkbar.
In einer Reihe von Sequenzen wird in intensiver Auseinandersetzung mit den großen Vorbildern Hitchcock, Hawks, Rossellini, Renoir, Bergman eine neue Ästhetik erkennbar: „Das macht Godard, Truffaut und die Nouvelle Vague wahrhaft revolutionär: Sie befreien sich vom normalen Kino, dem guten wie dem schlechten, um andere Filme anders zu drehen, auf der Straße, mitten in Paris, mit leichtem Equipment ohne aufwändige Ton- und Lichtausrüstung, mit unbekannten Schauspielern, nicht älter als sie selbst. Die Geschichten sind ihnen nahe, manchmal intim, der Ton ist persönlich, lebendig und fängt das Lebensgefühl junger Leute ein. Ihr Kino ist authentischer, trotz eines ausgeprägten Stils: der Stilisierung in Schwarzweiß eines Moments der Geschichte“, beschreibt es der Drehbuchautor, Filmhistoriker und ehemalige Chefredakteur der „Cahiers' Antoine de Baecque in seinem Off-Kommentar. Dazu sieht man dann Jean-Paul Belmondo im Finale von „Außer Atem“ tödlich verwundet auf eine Kreuzung zulaufen, die er lebend nicht mehr erreichen wird. „Näher am Leben, aber gespeist aus Kinoerfahrungen“, könnte eine Parole der Nouvelle Vague sein. Wobei die Novelle Vague als Gruppenbegriff ja umstritten und nur auf lange Sicht eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Zwar beschränkt sich „Deux de la Vague“ auf die Freundschaft zwischen Truffaut und Godard, aber selbst diese Freundschaft bleibt in ihren freundschaftlichsten Momenten eher unterkühlt. Man erinnere sich daran, dass Chabrol, Rivette und auch Rohmer den Mythos von der verschworenen Gemeinschaft der „Cahiers“-Kritiker immer wieder entschieden in Frage gestellt haben. Aber nicht nur auf die Freundschaft war kein Verlass, auch auf das Publikum nicht! Laurent zeigt nicht nur, auf welche Ablehnung ein Film wie „Außer Atem“ beim zeitgenössischen Publikum stieß, sondern er verschweigt auch nicht, dass eine Reihe von Misserfolgen aus der Neuen Welle fast ein Strohfeuer gemacht hätte. Godards „Der kleine Soldat“ wurde von der Zensur verboten; „Die Karabinieri“ wollten in Paris nur noch 20.000 Zuschauer sehen. Dennoch konnten Godard und Truffaut während der folgenden Jahre bis „1968“ kontinuierlich arbeiten und sich bei Projekten auch gegenseitig unterstützen.
Ein interessanter Aspekt dieser „Gemeinsamkeiten“ ist das Zirkulieren des Schauspielers Jean-Pierre Leaud zwischen den mittlerweile schon distinkten Film-Welten von Godard und Truffaut. Während Leaud bei Truffaut stets (oder zumindest noch lange) das Alter Ego Antoine Doinel bleibt, hat er bei Godard die Möglichkeit seine eigene Persona zu entwerfen und entwickeln. Auch nach dem Zerwürfnis der beiden Filmemacher bleibt das Scheidungskind Leaud beiden Vätern treu. Ist dieser Aspekt der Karriere Leauds eigentlich schon einmal intensiver untersucht worden? Wenn Leaud als Alter Ego Truffauts bestens eingeführt ist, was bedeutet oder impliziert es dann, wenn Godard sich diesen Darsteller schnappt und immerhin das Alter Ego auf Linie bringt, indem er die Rollen Leauds radikalisiert? Kann man das auch als eine auf Truffaut bezogene Ersatzhandlung werten? „Deux de la Vague“ interessiert sich dafür nicht, will er doch französische Filmgeschichte gerne als Familiengeschichte erzählen.
In der Affäre um Henri Langlois und die Cinémathèque française agieren Godard und Truffaut jedenfalls noch Seite an Seite, aber bereits beim Abbruch des Filmfestivals zu Cannes 1968 werden Differenzen in der Bedeutung des Politischen für beider Leben deutlich. Godards Militanz wird Truffaut nicht folgen; für Godard ist Truffaut nun als ein Bourgeois entlarvt. Oder, noch einmal auf Anfang, formuliert Godard: „Wenn man nicht mehr die gleiche Ansicht vom Kino hat, wenn man nicht mehr dieselben Filme liebt, kommt Streit, kommt Trennung. Die Freundschaft erlischt.“ Allerdings mit unerwartet heftigen Invektiven. Als Godard Ende der 1970er Jahre seine Spielfilmproduktion wieder aufnimmt, hat Truffaut nur noch drei Spielfilme zu leben. Die Schärfe der öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Godard und Truffaut, ansatzweise dokumentiert in der Truffaut-Biografie von De Baecque und Toubiana, umschifft Laurent vielleicht aus Höflichkeit, allerdings auch die freundlichen Worte Godards im Vorwort zur Ausgabe der Briefe Truffauts. Trotzdem: „Deux de la vague“ bleibt – zumal für jüngere Kinogänger, denen die Legenden und Anekdoten wahrscheinlich nicht mehr so präsent sind/sein können – ein höchst anregender Ausflug in eine heroische Phase der Filmgeschichte, die insbesondere viel Lust macht, sich die alten Filme mal wieder anzuschauen – und aus heutiger Sicht zu überprüfen, wie es aktuell steht mit Godard und/oder Truffaut. Am Ende blickt uns noch einmal Jean-Pierre Leaud direkt ins Gesicht. Mit jenem Blick aus dem Jahre 1959, der ihn unsterblich gemacht hat. Überhaupt hat der jugendliche, sehr aufgeweckte und enorm selbstbewusste Laiendarsteller Leaud in diesem Film ein paar ganz große Momente.